Was unterscheidet die „Dichterärzte“ wie Schiller, Keats, Tschechow, Döblin, Benn, Goetz, Antunes im Wesentlichen von anderen Ärzten und Dichtern?

Ärzte, Dichter und Rebellen (K.F. Masuhr)
„Meine gegenwärtige Lage nötigt mich, den Grad eines Doktors der Medizin anzunehmen“, notiert Friedrich Schiller, als er im Jahr 1782 eine poetische Pause einlegt, um sich der „Philosophie der Physiologie“ zuzuwenden. „Vielleicht umarmt mich dann meine Muse umso feuriger, je länger ich von ihr geschieden war …“
Von den bekannten Medizinern, die in den letzen drei Jahrhunderten als Schriftsteller hervortraten, sind neben Friedrich Schiller, dessen 250. Geburtstag im Jahr 2009 gefeiert wurde, weitere bedeutende Dramatiker wie Georg Büchner und Arthur Schnitzler besonders zu erwähnen, da sie – auf der Suche nach Spuren der Psychosomatik in ihrem Werk und Werdegang – die Richtung angeben können. Sie waren wissenschaftlich tätig, gewannen wichtige psychologische Erkenntnisse und rebellierten – als Arztsöhne – nicht nur gegen ihre Väter, sondern auch gegen die herrschende Medizin und Gesellschaft. Der junge Privatdozent Georg Büchner wurde darüber zum Revolutionär. Arthur Schnitzler, der die innovative Erzähltechnik des inneren Monologs durchsetzte, wird als literarisches Pendant Sigmund Freuds bezeichnet.
Drei Ereignisse der letzten Zeit belegen die Spannbreite des Arztdichter-Themas und die noch immer gültige Sprengkraft des Zusammenwirkens von Medizin und Dichtkunst: Während der Chirurg Uwe Tellkamp mit dem Deutschen Buchpreis 2008 und der Neurologe Jens Petersen mit dem Ingeborg-BachmannPreis 2009 ausgezeichnet worden sind, hat sich der Psychiater und Lyriker Radovan Karadzic wegen des Verdachts auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord vor dem Haager Tribunal zu verantworten.
Die meisten Autoren wurden nicht als Ärzte bestimmter Fachrichtungen berühmt, sondern erst bekannt, als sie aus ihrer Berufsrolle heraustraten, um schriftstellerisch und manchmal auch in dieser Konsequenz politisch tätig zu werden, wie z. B. der Nervenarzt und Essayist Heinrich Hoffmann, der 1848 ins Frankfurter Vorparlament als Abgeordneter einzog. Der „Struwwelpeter“ brachte ihm weltweiten Ruhm. Hoffmann verhielt sich nicht anders als viele sozialkritisch eingestellte Arztdichter des 20. Jahrhunderts wie Archibald Joseph Cronin, Friedrich Wolf, Heinar Kipphardt, und Wilhelm Kütemeyer. Das tätige Reisen als Schiffsarzt diente der Gesundheit der Arztdichter Gottfried Benn, Peter Bamm, Sir Arthur Conan Doyle und Michael Bulgakow. Ärzte reisen offenbar gern um die weite Welt, darunter auch die Schriftsteller William Somerset Maugham, Georges Duhamel, Axel Munthe und schon im 17. bzw. 19. Jahrhundert die Lyriker Paul Fleming und John Keats, die allerdings früh einer Infektionskrankheit nach weiten Reisen erliegen. Das Besondere an „Dichterärzten“ Was unterscheidet die „Dichterärzte“ (T. Nasemann 1993) im Wesentlichen von anderen Ärzten und Dichtern?
Was unterscheidet die „Arztdichter“ wie Schiller, Keats, Tschechow, Döblin, Benn, Goetz, Antunes im Wesentlichen von anderen Ärzten und Dichtern?
• Naturwissenschaftlich orientierte Mediziner berichten lebensnäher und detailreicher als andere Schriftsteller über Erfahrungen mit der Körpermedizin.
• Geisteswissenschaftlich geschulte Mediziner zeichnet vor allem ihre Fähigkeit zu phänomenologischer Betrachtung aus.
• Psychosomatisch orientierte Mediziner sind meist keine unabhängigen Berichterstatter, sondern zugleich auch anteilnehmende Therapeuten für Körper und Psyche.
• Arztdichter verfügen über ein besonderes Sensorium, um das wahrzunehmen, was sie als Ärzte und Dichter betrifft, worum es in den schönen und heilenden Künsten geht, und was sie selbst angeht, weil es ihnen nahe geht.
• Der Doppelberuf verhilft Arztdichtern zu alltäglichen Einblicken und einzigartigen Erfahrungen im Umgang mit menschlichem Leben und Leiden. Sie konfrontieren sich auf verschiedenen Ebenen mit sozialem Elend, das mit medizinischen und literarischen Mitteln kaum zu ändern ist und entschiedenes politisches Handeln herausfordert. Aus diesem Grund gehen einige Autoren in die Politik, andere werden zu Revolutionären.
Wenn Mediziner wie die jungen Rebellen Friedrich Schiller und Georg Büchner auf der Flucht vor der Obrigkeit waren oder – wie Jean-Paul Marat und Ernesto Che Guevara – in letzter Konsequenz als Revolutionäre agierten, mussten sie früh ihr Leben lassen. Ernst Weiß und Jan Korczak wurden wie die Mediziner der „Weißen Rose“ zu Opfern des NS-Terrors, Hans Carossa und Louis Ferdinand Céline in Abwesenheit zum Tod verurteilt, aber gerettet bzw. begnadigt. Friedrich Schiller, Michael Bulgakow und Heinar Kipphardt desertierten, neun Arztdichter kamen in Haft, sechs gingen ins Exil. „Arzttum ist immer Kämpfertum“, hieß es im Kreis der Militärärzte des Zweiten Weltkriegs (A. Neumann 2005). Uniformität und Konformität verlängerten die durchschnittliche Lebenserwartung signifikant. Dies trifft für fast alle Arztdichter in Uniform zu, die unterschiedlichen Regimes dienen. Nur drei der hier vorgestellten Autoren, die Theologen Angelus Silesius, Francois Rabelais und Albert Schweitzer, ergriffen erst den Arztberuf, nachdem sie schon als Schriftsteller erfolgreich gewesen waren.
(Masuhr, K.F.: Hamburger Ärzteblatt 01, 35, 2010)
VIDEO (WDR): Friedrich Schiller