Gefährliche Poesie

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Justinus Kerner, schwäbischer Arzt und Dichter

Justinus Kerner, der schwäbische Arztdichter, der ebenso unerschrocken wie erfolgreich mit dem stärksten aller natürlichen Gifte (Botulinumtoxin) experimentiert hatte, geriet eines Tages in panische Angst und wollte sogar das Land verlassen, als er erfuhr, welche Gefahr von einer einzigen seiner klingenden Metaphern ausgegangen war (8. Kapitel). Er hatte mit einem trefflichen Vers, wenn auch „etwas kühn“, wie er bekannte, seine Zeitgenossen bei Hofe als „goldbordierte Knechte“ karikiert. Fortan musste er wie viele Dichter befürchten – und das war wohl noch nie ein reiner Wahn, – von staatlichen Stellen überwacht zu werden. Besonders bemerkenswert ist, dass seine rege Forschungsarbeit auch zur Ablenkung der Geheimpolizei diente, weil medizinische Schriften den Argwohn der Zensoren weniger erregten als die „gefährliche Poesie“.

Justinus Kerner hatte über die Funktion einzelner Teile des Gehörs (1808) promoviert und als erster empirischer Forscher die Ursache einer bakteriellen Lebensmittelvergiftung, des Botulismus beschrieben: Nach seiner Beobachtung führte ein „Fettgift“ in verdorbenen Würsten häufig zu Doppelsehen, Atemnot und „Herzlähmung“. Das bei Botulismus wirksame Neurotoxin wird heute stark verdünnt in die faltige Gesichtshaut, in Augenlider und spastische Muskeln gespritzt, kann aber dann auch wie der Botulismus nach einer Lebensmittelvergiftung zu Lähmungen führen. Durch das Toxin von clostridium botulinum wird die Acetylcholin-Ausschüttung an der neuromuskulären Endplatte blockiert. Botulinumtoxin ist das stärkste natürliche Gift. Immens ist das Risiko des Einsatzes als B-Waffe (Bioterrorismus): Ein Gramm des Gifts wäre für 10 Millionen Menschen tödlich.

Nach wie vor ist das Risiko für Autorinnen und Autoren nicht gering, aufgrund eines politischen Protests oder auch nur wegen eines satirischen Gedichts staatlich verfolgt zu werden. Eine rigoros praktizierte Kulturpolitik reduziert den öffentlichen Diskurs auf den Kampf der Scherheitskräfte gegen Freiheitskräfte und steht damit für die Kontinuität historischer Konflikte: Widerstandskämpfer rebellieren gegen Willkürherrschaft und machtbewusste Insider verfolgen intellektuelle Outsider:

• Im Königreich Saudi-Arabien wurde ein Todesurteil wegen „Blasphemie“ über den Lyriker Ashraf Fayadh verhängt. Er hatte in einem Gedichtband auf „Propheten im Ruhestand“ („Prophet have retired“) angespielt.

• In der Bundesrepublik Deutschland galt eine Majestätsbeleidigung – noch 100 Jahre nach dem Ende der Monarchie – als Verstoß gegen die „Unverletzlichkeit“ des Staatsoberhaupts.
Gegen den Majestätsbeleidigungsparagraphen verstießen sowohl der Dichter Frank Wedekind als auch der Satiriker Jan Böhmermann, als sie mit ihren Schmähgedichten besonders auf Intelligenzmängel des deutschen Kaisers bzw. des türkischen Präsidenten aufmerksam machen wollten.25 Dies blieb nicht ohne Folgen:
• Im Jahr 1899 verfügte der deutsche Kaiser, dass Wedekind als Autor des Simplicissimus vor Gericht gestellt und zu sechs Monaten Festungshaft verurteilt wurde.

• Im Jahr 2016 ermächtigte die deutsche Bundeskanzlerin die Staatsanwaltschaft zur Strafverfolgung des Satiremagazin-Moderators Böhmermann.

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und Literatur ist Widerstand

und Lyrik und Leichtigkeit

 

Arthur Schnitzler: Arzt und Dichter

Die herrschende Doppelmoral

An der Wende zum 20. Jahrhundert waren es vor allem zwei avantgardistische Dramatiker und Erzähler, die als erfahrene Ärzte zwischen Melancholie und Hoffnung schwankend, ironische und satirische Texte verfassten: Arthur Schnitzler und Anton Tschechow.

Schnitzlers Novelle Lieutenant Gustl (1900) ist darauf angelegt, die herrschende Duellpraxis als Inbegriff der Doppelmoral und menschlicher Schwäche zu entlarven. Schnitzler arbeitete als Assistenzarzt – wie schon einige Jahre vor ihm Freud – am Wiener Allgemeinen Krankenhaus in der Neuroanatomie und Psychiatrie.

In der Novelle Fräulein Else (1924) schilderte er den traurigen Monolog der 19-jährigen Protagonistin. Dieser innere Monolog war in zweifacher Hinsicht neu: Zum einen konnte man erstmals unmittelbar an Gedanken und Grübeleien teilnehmen, die in dieser Form kaum spontan ausgesprochen würden. Zum andern wurden freisinnige weibliche Vorstellungen preisgegeben, die eine Grundregel der herrschenden Doppelmoral verletzten: Man erfuhr etwas, „worüber man nicht spricht“, beispielsweise eine exhibitionistische Neigung der jungen Frau.

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Paul Fleming: Arzt und Dichter

 

Arztdichter, Deutschland 17.–19. Jahrhundert

Paul Fleming (1609–1640)
Johannes Scheffler (1624–1677)
Johann Christian Günther (1695–1723)
Johann Friedrich Albrecht (1752–1814)
Friedrich Schiller (1759–1805)
Justinus Kerner (1786–1862)
Heinrich Hoffmann (1809–1894)
Georg Büchner (1813–1837)

Während des Dreißigjährigen Krieges lebte und starb der Arzt Paul Fleming, ein selbstbewusster Poet, der hieb- und stichfeste Verse schmiedete, die auf seinen Wunsch auch für seine eigene Grabschrift in Stein zu meißeln waren:

Man wird mich nennen hören/Biß daß die letzte Glut diß alles wird verstören.

20-jährig wurde Paul Fleming zum Poeta laureatus gekrönt. Kurz nachdem er die medizinische Doktorwürde (De Lue veneria) erworben hatte und von einer seiner zahlreichen Schiffsreisen heimgekehrt war, starb er 30jährig an einer von ihm selbst diagnostizierten Lungenentzündung.

Nichts fehlt dem Lyriker und Liebhaber zum kurzen irdischen Glück, wenn doch die Angebetete ihn nur einmal erhören wollte; doch gesetzt den Fall, sie tut’s, dann darf er so gut wie nie ohne göttliche Zustimmung allein mit ihr sein; denn der Liebesgott der Oden und Sonette ist allgegenwärtig: Blind verteilt Amor seine Gunst zwischen den begehrten Mädchen und begehrlichen Männern. Wenn Amor aber blind ist und die Schöne sich taub stellt, was bleibt dann einem braven Dichter des 17. Jahrhunderts – wie Paul Fleming – anderes übrig, als zu klagen und der Dame mit göttlicher Vergeltung zu drohen?

 
Ich lauff’/ ich ruff’/ ich bitt’/ ich weine.
Sie weicht/ und schweigt/ und stellt sich taub.
Sie leugnets und ists doch alleine/
die mir mein Hertze nimmt in Raub

Ach Freundin/ scheu der Götter-rache.
Daß du dir nicht zu sehr gefällst/
Daß Amor nicht dereinst dir lache/
Den du itzt höhnst/ und spöttlich hältst.

 

Video:  https://www.youtube.com/watch?v=KLj2MaBNa8Y?ecver=2gkeit

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