Hauke Goos: Heinrich Mann über „Hass“

Wie man klar und deutlich über den Hass schreibt

Wie man klar und deutlich über den Hass schreibt

Wie kraftvoll die deutsche Sprache sein kann. Folge 103: Heinrich Mann seziert den Hass. Die Deutschkolumne von Hauke Goos

Umschlag der deutschsprachigen Erstausgabe von »Der Hass«, 1933 Foto: S. Fischer Verlage

Das Schöne am Schreiben über den Hass: dass man nicht selbst hassen muss, um ihn verstehen zu können. Es reicht, wenn man einmal in Kontakt mit ihm kommt, als Beobachter, oder, wenn man Pech hat, als Opfer.

Heinrich Mann war beinahe 62 Jahre alt, als er vor dem Hass kapitulierte. Er hatte ein paar ziemlich erfolgreiche Bücher geschrieben, den »Professor Unrat«, den »Untertan«, er hatte sich für die Republik eingesetzt, früher und entschiedener als sein Bruder Thomas. Entschiedener und früher als die meisten anderen hatte er begriffen, was Hitler bedeutete. Hauke Goos

Hauke Goos: Heinrich Mann über „Hass“https://www.spiegel.de/kultur/der-hass-von-heinrich-mann-wie-man-klar-und-deutlich-ueber-den-hass-schreibt-a-b6936ec0-c3b7-4370-abf4-4aaa7fce2f2b

Erich Kästner: „Einsamkeit“. Sandra Siebenthals Laudatio

„Ein Auszug aus Erich Kästners Gedicht «Kleines Solo», der mich immer wieder berührt. Das Bild ist fühlbar. Aus der Wanduhr tropft die Zeit. Die sich ziehende Einsamkeit, die sich über alles legt.“

„Einsam bist du sehr alleine.
Aus der Wanduhr tropft die Zeit.
Stehst am Fenster. Starrst auf Steine.
Träumst von Liebe. Glaubst an keine.
Kennst das Leben. Weißt Bescheid.
Einsam bist du sehr alleine –
und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.»

„1899 geboren, durchlief er die Schule, trat ins Lehrerseminar ein, welches er abbracht, aber als Stofflieferanten für seine Bücher nutzte. Später promovierte er als Germanist, schrieb Journalistisch und Geschichten. Die Nationalsozialisten machten dem ein Ende, verbrannten seine Bücher, was er als einziger Betroffener mitverfolgte. Er blieb in Deutschland, auch als einer der Wenigen, und schrieb unter Pseudonym Drehbücher für Komödien.

Das wurde ihm – vor allem in späterer Zeit – immer wieder zum Vorwurf gemacht. Zu seicht sei er gewesen, zu wenig auflehnend und kämpferisch. Ganz böse Zungen nannten ihn gar Profiteur, habe er doch mit seichtem und dem Regime genehmem Stoff ein Auskommen gehabt. Seine kritischen Gedanken endeten da aber nicht, er schrieb sie im Geheimen auf.

Kästner konnte auch nach dem Krieg noch erfolgreiche Bücher schreiben, doch der Schreibfluss versiegte mit steigendem Alkoholkonsum. mehr und mehr. 1974 ging sein nicht wirklich vom Glück verfolgtes Leben zu Ende, doch in seinen wunderbaren Büchern lebt er für grosse und kleine Menschen weiter.“

Marcel Reich-Ranicki hat den Menschen und Denker Kästner schön beschrieben:
»Erich Kästner war ein wehmütiger Satiriker und ein augenzwinkernder Skeptiker. Er war Deutschlands hoffnungsvollster Pessimist und der deutschen Literatur positivster Negationsrat. War er ein Schulmeister? Aber ja doch, nur eben Deutschlands amüsantester und geistreichster. Er war ein Prediger, der stolz die Narrenkappe trug.«

„Zitronen“, ein neuer Roman von Valerie Fritsch, umwerfend wie „Madame Bovary“




„Zitronen“, der neue Roman von Valerie Fritsch, wird im Untertitel als „ein sprachgewaltiges Buch über das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom“ angekündigt. Es geht um eine irreversibel gestörte, besser: zerstörte Familie, aber keineswegs um medizinische Fragen oder psychologische Antworten, wie man es erwarten könnte, wenn man vom „Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom“ („by proxy“) hört: Man erfährt, dass Eltern, vorwiegend Mütter, bei ihren Kindern Symptome wie Atemnot, Fieber und Bewusstlosigkeit erzeugen, um Notfallsituationen – Asthmaanfall, Blutvergiftung, Koma – vorzutäuschen.

Valerie Fritsch: Zitronen

Valerie Fritsch kennt das Syndrom offenbar sehr genau, verzichtet aber, wie gesagt, auf jede psychologische Interpretation. So verwandelt sie das Syndrom in Literatur:
Sie schildert in der Tat „sprachgewaltig“ das ungelebte Leben einer kleinen Familie, in der ein Junge nicht gesund aufwachsen kann. Sein Vater ist abwesend und Lilly, seine Mutter, macht den Sohn fortwährend krank, um ihn wie eine Pflegerin umsorgen zu können. Sie flößt ihm unnötige, keineswegs harmlose Medikamente ein, die ihn in ein Dauerdelirium versetzen. Dabei agiert sie wie eine Bilderbuchmutter. Zum Beispiel schiebt sie das benommene Kind im Rollstuhl durch das Dorf und „nimmt das Mitleid wegen ihres Schicksals und die Bewunderung dafür, es zu meistern, entgegen“.
Offensichtlich ging es Lilly immer um nichts anderes als Selbstfürsorge. Wenn sie dem Sohn Gute-Nacht-Geschichten, Mythen und Sagen erzählte, „kam Leben in die Mutter.“ Es war, „als hätte auch sie Ungeheuer besiegt, Frauen, Städte, ganze Königreiche gerettet“. Mit diesen magischen Sätzen beschreibt die Autorin eine Spielart der Mythomanie. Psychoanalytisch handelt es sich um einen Abwehrmechanismus: Der innere Konflikt, Schuld und Angst, lösen sich in Nichts auf, und das nunmehr leere Leben wird mit erfundenen Geschichten angefüllt. Diese Verwandlung ist in letzter Zeit wohl kaum so klar – und auf poetische Weise verdichtet – dargestellt worden.
Gustave Flauberts „Madame Bovary“ bietet sich vielleicht als Vergleich an, vor allem, was die jeweils in neuer epischer Qualität erzählten, konfliktbeladenen Handlungsteile angeht: die gestörte Mutter-Kind-Bindung, das gewaltsame Ende der Protagonistin und die damals wie heute kritische Sicht auf die Medizin. Alles andere ist gewiss ganz anders.

Dass das ungelebte Familienleben aber auch in diesem Fall (Zitronen) tödliche Gefahren birgt, entspricht den Risiken, die schon häufig in der Kinderheilkunde und in der Gesellschaft unterschätzt worden sind. Es gibt also viele Gründe, dieses sehr lesenswerte Buch zu empfehlen. (Rezension23. Februar 2024 von Marc S. Huf)

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Kulturzeit 7.3.2024: „August Drach wächst in einem Haus am Dorfrand auf, das Hölle und Paradies zugleich ist. Der Vater, von sich und dem Leben enttäuscht, schlägt und demütigt seinen Sohn immer wieder. Die Mutter lässt es zu, gefällt sich aber in der Rolle der Tröstenden, die das am Boden zerstörte Kind rührend umsorgt. In dem neuen Roman „Zitronen“ von Valerie Fritsch geht es um August, seine Kindheit und sein Leben als Erwachsener. Irgendwann ist der Vater weg. Er hat die Familie verlassen, genaueres erfährt man nicht. Jetzt könnte alles gut werden. Doch der kleine August kommt vom Regen in die Traufe. Denn jetzt übernimmt die Mutter den Part der Gewalt, wenn auch subtiler. Sie verabreicht ihrem Sohn heimlich Medikamente, die das Kind krank machen. Die ganze Zeit über ist der Junge schwach und müde, kann nicht vor die Tür. Er braucht die Mutter, die ihn hingebungsvoll versorgt. Die Mutter wird von den Dorfbewohnern und dem Arzt bewundert für ihre Aufopferung gegenüber dem kranken Kind. „Zitronen“ ist ein Roman über eine kranke Liebe, der durch die Art des Erzählens manchmal an ein böses Märchen erinnert, mit der Mutter als herzlosen Hexe. Der Text ist sprachlich sehr dicht und kommt ohne direkte Rede aus. Sehr detailverliebt beschreibt Valerie Frisch zunächst die gestohlene Kindheit des Jungen. Im zweiten Teil schildert sie gnadenlos das Scheitern des erwachsenen August auf der Suche nach Liebe. Wir sprechen mit der Literaturkritikerin Katrin Schumacher über den vierten Roman der Österreicherin Valerie Fritsch, die 1989 in Graz geboren wurde, wo sie auch heute lebt.“

„Zitronen“ von Valerie Fritsch: Sehnsuchtssüß und sauer

Beate Tröger: „Abgründe Valerie Fritschs Charakterstudie „Zitronen“ erörtert das Verwerfliche, Gewaltsame und Zerstörerische im Menschen – nach guter Tradition der österreichischen Moderne.

Bücher vergisst man dann nicht, wenn sie ihr Geheimnis nicht völlig preisgeben. Valerie Fritsch hat mit Zitronen einen solchen Roman geschrieben. Er ist sorgfältig komponiert, in seiner Fokussierung auf sonderbare Menschen den beiden vorangegangenen durchaus verwandt und zudem motivisch fein verzahnt. Allerdings sei gleich zu Beginn gesagt: Empfindsame Gemüter sollten ihn lieber nicht vor dem Schlafengehen lesen.

In Zitronen erzählt die 1989 in Graz geborene Fritsch von der Familie Drach. Vater, Mutter, Kind auf dem Dorf, aber von Idylle keine Spur: Man ist misstrauisch, in manchem Haus geht das Fenster nur auf, wenn jemand gestorben ist. Lilly Drach hat sich eingerichtet zwischen „Chaos und Opulenz“. Einst Krankenpflegerin, träumt sie sich mit Lady Di, angelaufenem Silberbesteck und Horoskopen immerzu in eine andere Welt. Ihrem Sohn August schärft sie das zweifelhafte Mantra ein: „Du bist nichts als das, was du träumst“, und manchmal ruft sie wie zu sich selbst: „Ich will zu den Blumen, den Männern, dem Meer.“ Wenn der Vater – er handelt mit Trödel, der sich im Haus ausbreitet – zärtlich zu seinen Hunden und fürsorglich im Apfelgarten ist, seinen Sohn August jedoch aus seinen unberechenbaren Launen heraus schlägt, schaut Lilly Drach weg. Sie kennt die explosive Verbindung aus „verletzender Nähe und ebensolcher Distanz“ zu gut. Der Sohn lernt sie ebenfalls, nimmt sie zu den Wahrheiten und Formeln seiner Kindheit. Als der Vater urplötzlich verschwindet, scheinen sich die Verhältnisse im Hause Drach zu beruhigen. Doch die Mutter, die sich auf den einsamen, fettleibigen Dorfarzt Otto Ziedrich einlässt, wiederholt das grausame Ritual von Gewalt und Zärtlichkeit, quält August zwar auf leisere, aber ebenso perfide Art, wie es der Vater getan hat. Sie erfindet für den Sohn eine Krankengeschichte und sediert ihn mit dem Migränemedikament Ergotamin, das sie durch gefälschte Unterschriften auf Otto Ziedrichs Rezeptblock ergattert. Jahrelang glaubt das Dorf ihre tragische Geschichte der verlassenen Mutter, die ihren chronisch kranken Sohn aufopfernd liebt.

Auf einer Reise der drei in den Süden in Ottos Sommerhaus scheint es erneut so, als käme dort, in „Tagen ohne Schwindel und Schmerz“, die untergründige Disbalance der kleinen Schicksalsgemeinschaft in ein Gleichgewicht. Doch der „schlimmste Augenblick jedes Sommers ist sein Ende“. Auch dieser Sommer endet. Nach der Rückkehr entdeckt Otto in einer Küchenschublade seinen Rezeptblock und Lillys Unterschriftenfälschungen. Ziedrich schweigt und willigt so in die Misshandlungen Augusts ein. Immer dichter zieht sich das Netz aus wirren Gefühlsfäden zusammen. Fritschs Erzählstimme dagegen spinnt ihres kühl und klar, in einer klingenden, farbigen Sprache.

Die Zitronen, die dem Roman seinen Titel geben und nicht nur im Süden, sondern auch im Gewächshaus der Drachs wachsen, lassen sich natürlich oxymoronisch deuten und lesen. Sehnsuchtssüß werden diese Agrumen bekanntlich in Goethes Versen eingesetzt, wenn vom „Land, wo die Zitronen blühn“, die Rede ist, doch immer wieder eben auch sauer. Wie der Roman mit diesen widersprüchlichen Assoziationen spielt, das ist kunstvoll und klug kalkuliert. „Der Mensch ist eine Überlebensmaschine.“ Von einem Blitzschlag, der ihn trifft, behält August lediglich eine Narbe.

Mit Ottos Hilfe gelingt ihm der Sprung aus dem Gefängnis mütterlichen Irrsinns. Er landet in der Stadt, dann in den Armen der Künstlerin Ava. Sie kommt aus einer Familie, „in der man sich nichts so sehr wie den Verzicht auf das eigene Glück zugunsten der anderen an die Brust heftete“. Die beiden emotional stark Versehrten August und Ava treten in ein symbiotisches Verhältnis zueinander.

Fiasko nach dem Liebesspiel

Wie Fritsch die Beziehungen und Innenwelten ihrer Figuren entfaltet, wie sie etwa Augusts Albträume als Ansammlungen von Monstren erscheinen lässt, ruft Assoziationen an die Bilder von Hieronymus Bosch auf. Wie sie das Liebesspiel zwischen August und Ava beschreibt, ist beängstigend: „Als wolle sie ihn schälen, schlug Ava ihm oft beim Liebesspiel die langen Fingernägel in die Haut, wie er als Kind seine in Zitronen geschlagen hatte, um durch den winzigen Riss der Schale an ihrem hellen, gelben Fleisch zu riechen. Dann sah August hilflos an sich herauf, fürchtete halb, sie hätte ihn tatsächlich perforiert.“ Das Feuer zwischen den beiden muss unweigerlich ins Fiasko führen. Doch auch damit hat Zitronen noch immer nicht den traurigen, ja schockierenden Höhepunkt erreicht, bei dem eine Pistole, die gleich zu Beginn des Romans erwähnt wird, die zentrale Rolle spielt.

Georg Büchner hatte einst in Dantons Tod mit „Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?“ eine Frage niedergeschrieben, die längst zur Formel für eine Literatur geworden ist, die das Abgründige, moralisch Verwerfliche, Gewaltsame und Zerstörerische im Menschen ergründen will. Valerie Fritschs Roman wirft diese Frage einmal mehr auf und steht damit auch in guter Tradition der österreichischen Moderne. Er erörtert sie aber nicht psychologisierend in dem Sinn, dass man Augusts Schicksal ganz über die prekären Biografien der Eltern ausdeuten könnte. Die Antwort auf die Frage, warum diese geworden sind, was sie sind – oder in ihrer inneren Leere eben gerade nicht sind –, bekommt man nicht. Das lässt dem Geheimnis Raum, den Lesenden die Möglichkeit zum Weiterdenken und -fragen.“ (Beate Tröger in Der Freitag 11/2024)

Alexej Nawalnys letzte Botschaft an Julija

Nun ist Alexej Nawalny tot – und sein letzter Instagram-Post stammt vom 14. Februar 2024, also Valentinstag. Dort schreibt er an seine Frau Julija Nawalnaja gerichtet: „Babe, wir haben alles wie in einem Lied: Städte zwischen uns, Landebahnlichter am Flughafen, blaue Schneestürme und tausende Kilometer. Aber ich fühle, dass du jede Sekunde in meiner Nähe bist, und ich liebe dich mehr und mehr ❤️“.

Alexej Nawalny (M), Oppositionsführer aus Russland, tritt gemeinsam mit seiner Frau Julia (r), seiner Tochter Daria (l) und Sohn Zahar vor die Presse, nachdem er abgestimmt hat. Oppositionelle in Russland haben zu einer Protestabstimmung bei den Regionalwahlen gegen die Kremlpartei Geeintes Russland aufgerufen. +++ dpa-Bildfunk +++

Carl Schmitt in der NS-Zeit

Carl Schmitts erstmals 1923 erschienener Schrift „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus“ formulierte der Rechtswissenschaftler und spätere „Kronjurist des Dritten Reiches“ identitäre Vertreibungsfantasien. Teile der AfD schließen heute daran an. © ullstein bild; Nils Stelte/​Ostkreuz

Da Schmitt die Rechtmäßigkeit der „nationalsozialistischen Revolution“ betonte, verschaffte er der Führung der NSDAP eine juristische Legitimation. Aufgrund seines juristischen und verbalen Einsatzes für den Staat der NSDAP wurde er von Zeitgenossen, insbesondere von politischen Emigranten als „Kronjurist des Dritten Reiches“ bezeichnet.

Rechtsextremer Geheimplan: Die geistige Blaupause für die Vertreibungspläne der AfD

AfD-Funktionäre planten jüngst bei einem Geheimtreffen massenhafte Deportationen. Das folgte bis in die Wortwahl einer Schrift des Nazi-Juristen Carl Schmitt.

Von Thomas Assheuer, Zeit online

Albert Schweitzer

Das Wissen hat Grenzen, das Denken nicht.  ALBERT SCHWEITZER

(Richard Brüllmann 1968)

„Albert Schweitzer wurde 1875 in das Deutsche Kaiserreich hineingeboren. Er studierte Theologie und Philosophie – wie sein Vater und Großvater. Da ihn sein späterer Beruf als Professor nicht ausfüllte, fasste er schließlich die Entscheidung, Arzt zu werden.

Der konservativen Gesellschaft zum Trotz ging er im Jahre 1913 mit seiner Ehefrau Helene nach Gabun in Afrika, um ein Krankenhaus und später auch ein Lepradorf zu errichten. Im Zuge des Ersten Weltkrieges wurde Schweitzer als deutscher Staatsbürger verhaftet und zurück nach Europa gebracht. Später zog es ihn immer wieder nach Gabun, wo er sich für Hilfsbedürftige einsetzte.

Nebenbei veröffentlichte Schweitzer theologische und philosophische Schriften. Außerdem war er bekannt für sein Orgelspiel und das „Prinzip der Ehrfurcht vor dem Leben“, in dem er das Leben zum höchsten Wert erklärte.

Heute gilt er als Wegbereiter humanitärer Hilfe und als Vordenker für Frieden und Gerechtigkeit. Im Jahr 1952 erhielt er für seinen Einsatz gegen das atomare Wettrüsten den Friedensnobelpreis.“ SWF Kultur

  Der Urwaldarzt Albert Schweitzer  (1875–1965)  verfasste Selbstzeugnisse, die eine interessante Ergänzung seiner theologischen Schriften und der Sekundärliteratur darstellen.  Mit seiner Forderung nach Ehrfurcht vor dem Leben gewann er weltweites Ansehen, zumal er nicht, wie sonst üblich, das Gebot der Gottesfürchtigkeit allen anderen Geboten voranstellte, sondern mit seiner Devise auf ebenso magische wie menschliche Weise die Begriffe „Furcht“ und „Ehre“ miteinander und mit dem neuen Gebot der Ehrfurcht vor allen Lebewesen verband,
sodass seiner Leserschaft selbst angesichts der Atomkriegsgefahr nicht ständig angst und bange werden musste. Wie viele politisch engagierten Schriftsteller und Neuerer hatte er erwartungsgemäß auch den Widerstand und eine  „Supervision“  staatlicher Stellen herausgefordert.  

                                                                                


Jan Wagner: neue Lyrik

hamburg – berlin

der zug hielt mitten auf der strecke. draußen hörte
man auf an der kurbel zu drehen: das land lag still
wie ein bild vorm dritten schlag des auktionators.

ein dorf mit dem rücken zum tag. in gruppen die bäume
mit dunklen kapuzen. rechteckige felder,
die karten eines riesigen solitairespiels.

in der ferne nahmen zwei windräder
eine probebohrung im himmel vor:
gott hielt den atem an. JAN WAGNER

JAN WAGNER

Sven Meyer: Zu Jan Wagners Gedicht „hamburg – berlin“:

Stehendes Jetzt

I.
Jan Wagners Gedicht „hamburg – berlin“1 schildert eine alltägliche Begebenheit: eine Bahnreise von Hamburg nach Berlin. Der Zug hält auf freier Strecke, irgendwo in Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg, und der Betrachter blickt aus dem Zugfenster auf die umgebende Landschaft, die typischer nicht sein könnte: Zu sehen sind ein Dorf, Baumgruppen, Felder und zwei Windräder. Mehr ist nicht zu beobachten. Wie Wagner aus dieser Momentaufnahme mittels Klangstruktur und Metaphorik ein poetisches Bild mit metaphysischen Implikationen erschafft, soll im Folgenden untersucht werden.
Die formale Beschreibung des Gedichts kann knapp ausfallen. Es besteht aus einer Titelzeile und drei Strophen von je drei Versen Länge mit wechselnder Silbenzahl. Die erste Strophe weist drei Verse zu je 13 Silben auf, die zweite Strophe 14 Silben im ersten Vers und je zwölf in den anderen beiden, und die dritte Strophe beginnt mit zwei Versen à zehn Silben und endet mit dem kürzeren Schlussvers von sechs Silben Länge. Das Gedicht erscheint reimlos und hat kein durchgängiges Metrum. Dennoch liegen keine Freien Verse vor, denn Wagner verwendet Daktylen in der zweiten Strophe („[ein] dorf mit dem rücken zum tag“ und „[in] gruppen die bäume / mit dunklen kapuzen“) sowie im Schlussvers („gott hielt den atem an“) und rhythmisiert das Gedicht dergestalt. Außerdem ist das Gedicht durchgängig durch klangliche Bindungen strukturiert. Wagner, „ein überzeugter und deshalb auch überzeugender Miniaturist“,2 verwendet – wie überall in seiner Lyrik seit dem Debut-Band – Kleinschreibung und gibt dem Gedicht so ein modernistisches Gepräge. Die Orthographie folgt der offiziellen Rechtschreibung, auch die Interpunktion ist regelkonform – mit einer Ausnahme: Wagner verzichtet auf ein Komma im zweiten Vers:

draußen hörte
man auf
[,] an der kurbel zu drehen.

Bisher liegen keine eingehenden Interpretationen des Gedichts vor, wenngleich die besondere Stellung von „hamburg – berlin“ im Buch augenfällig ist: Dessen Titel Probebohrung im Himmel verdankt sich ja einem Vers der dritten Strophe des Gedichts – „in der ferne nahmen zwei windräder / eine probebohrung im himmel vor:“ –, und PROBEBOHRUNG IM HIMMEL ist zugleich der Titel der dritten Abteilung des Bandes, die mit „hamburg – berlin“ beginnt. So erhält die „Probebohrung im Himmel“ dreifache Prominenz: als Buchtitel in Normalschreibung, als Abteilungstitel in Versalien und als Kernmetapher des Gedichts „hamburg – berlin“ in Kleinschreibung. Das Gedicht „hamburg – berlin“ wird deshalb von der Kritik zwar zumeist erwähnt und als beispielhaft für Wagners Lyrik benannt, kaum aber eingehend interpretiert.3

II.
Der Gedichttitel „hamburg – berlin“ lokalisiert das Geschehen, Ausgangs- und Endpunkt der Reise sind genannt. Anders aber als in der für Bahnstrecken üblichen Schreibweise „Hamburg-Berlin“ rückt Wagner Spatien zwischen den Gedankenstrich und die beiden Städtenamen ein. Durch diese interpunktionelle Justierung gewinnt der Titel eine doppelte Bedeutung. Zum einen kennzeichnet der Gedankenstrich, dass wir es mit einer Bahnstrecke zwischen dem Ausgangpunkt Hamburg und dem Zielort Berlin zu tun haben. Zum anderen fungiert der Gedankenstrich als Streckenstrich im eigentlichen Wortsinn: Er steht für das namenlose In-between, an dem der Zug zum Stehen kommt, und das zwischen den beiden konkret benannten Städten als unkonkreter Ort symbolische Bedeutung beanspruchen kann.
Darüber hinaus verbindet die Bahnstrecke von Hamburg nach Berlin den Herkunftsort Wagners mit seinem Wohnort, so dass die Bahnreise zugleich als Lebensweg des Dichters lesbar ist: „Ich bin in Hamburg zur Welt gekommen“,4 so Wagner in seiner Selbstvorstellung vor der Mainzer Akademie. 1995 zog er nach Berlin, „wo ich seither lebe.“5 Der Halt auf freier Strecke deutet somit zugleich auf ein Innehalten auf dem Lebensweg des Dichters hin, den eine profane Situation zu Assoziationen anstiftet, durch die sie transzendiert wird.
Die erste Strophe beschreibt den unvorhergesehenen Stopp des Zuges („der zug hielt mitten auf der strecke.“) und fasst die so entstandene Bewegungslosigkeit in zwei Metaphern. Die erste Metapher ist dem Bereich des Films entnommen:

draußen hörte
man auf an der kurbel zu drehen

Harald Hartung schreibt in seiner Rede zur Verleihung des Hölderlin-Preises an Jan Wagner 2011:

Wenn draußen – außerhalb des Zuges – nicht mehr an der Kurbel der Bahnschranke gedreht wird, tritt Stille ein: sie erinnert an jene stills, die der Kinematograph erzeugt.6

Hartung interpretiert die Kurbel also als tatsächlich gegeben: Ein Schrankenwärter hat sein Werk getan und die Schranken an einem Bahnübergang, der wegen des stehenden Zuges geschlossen werden musste, heruntergekurbelt. Hartung assoziiert erst die darauf eintretende Stille mit den „stills“ eines Films. Aber auch die Kurbel kann bereits Teil der Filmmetapher sein: Sie steht dann für die Handkurbel eines altmodischen Filmprojektors. Der Reisende hatte während der Fahrt aus dem Fenster geschaut und die vorbeifliegende Landschaft dabei als einen Film, als eine Folge aufeinanderfolgender Bilder wahrgenommen, die dieser Projektor zeigt. Das rechteckige ICE-Fenster bestimmt dabei die Kadrierung dieses Films, also die Wahl des Bildausschnitts. Dreht sich die Kurbel nicht mehr, steht die Welt nicht nur still; sie ist auch still wie in einem Stummfilm, der von einem Kurbelprojektor gezeigt wird: In den schallisolierten ICE-Waggon dringt kein Geräusch von außen, und auch die Fahrtgeräusche des Zuges haben aufgehört. Mit dem Halt des Zuges stoppt auch der Film, und der Reisende sieht nur mehr ein Standbild.
Dieses Standbild, das Bild, das sich aus dem stehenden Zug heraus auf die stille Landschaft bietet, steht im Mittelpunkt der zweiten Metapher:

das land lag still
wie ein bild vorm dritten schlag des auktionators

Mit diesem Vergleich rückt Wagner die Metapher des (Stand-)Bildes aus der Sphäre des Films in die einer Kunst-Auktion. Sobald ein Auktionator seinen dritten Schlag ausführt und das Los dem Höchstbietenden zugeschlagen hat, herrscht wieder Betriebsamkeit. Bevor der Hammer aber endlich fällt, scheint sich die Zeit zu dehnen. Zum Eindruck der Stille und Unveränderlichkeit trägt hier auf der lautlichen Ebene die alliterative Häufung des Konsonanten l bzw. Approximanten [l] bei:

land lag still.

Diesen Moment eines Nunc stans, eines Stehenden Jetzt, fängt das in der ersten Strophe erklärte Standbild ein. Die zweite und die dritte Strophe von „hamburg – berlin“ widmen sich diesem Bild wie eine Ekphrasis einem Gemälde.
Die zweite Strophe beschreibt die alltägliche Landschaft, die sich dem Betrachter beim Blick aus dem Zugfenster zeigt: ein Dorf, Gruppen von Bäumen und Felder. Jedes dieser denkbar alltäglichen Motive gewinnt seine lyrische Qualität durch eine überraschende Bildhaftigkeit. Diese wird durch den Vokalismus der Strophe unterstützt. In allen drei Versen der Strophe finden sich Assonanzen in Form von Clustern gleichklingender Vokale.
Das Dorf liegt „mit dem rücken zum tag“. Hier hat „tag“ metonymische Bedeutung und steht für „Sonne“. Die Sonne bescheint die Gebäude am Dorfrand, die neugierige Blicke auf das dörfliche Leben abschirmen. So scheint das Dorf dem Betrachter den Rücken zuzukehren. Auch Baumkronen erscheinen als „dunkle[] kapuzen“, so dass sich die anthropomorphe Natur in Gestalt der Bäume ebenfalls vom Betrachter abzuwenden scheint. Auffällig ist die Häufung des Vokals [u]:

in gruppen die bäume
mit dunklen kapuzen

Der dunkle Vokal [u] bzw. [u:] korrespondiert mit der Dunkelheit der Baumkronen bzw. „Kapuzen“ und unterstützt so den Eindruck der Abgewandtheit der Bäume.
Die Felder erscheinen in ihrer Gleichförmigkeit als Spielkarten:

rechteckige felder,
die karten eines riesigen solitairespiels

Der gekürzte Vergleich – unter Verzicht auf die Vergleichspartikel „wie“ – verleiht den beiden Versen eine imagistische Qualität, die sich größtmöglicher Knappheit und einer Konzentration auf ein Bild verdankt. Wie in Ezra Pounds berühmtem, zweizeiligen Gedicht „In a Station of the Metro“ (1913) liegt auch hier kein Vergleich, sondern eine Gleichsetzung (equation) vor:

The apparition of these faces on the crowd;
Petals on a wet black bow
7

Der (Halb-)Vers benennt bei Pound wie bei Wagner präzise eine Sache (Gesichter in einer Menschenmenge bzw. Felder) und ein poetisches Bild, mit dem diese gleichgesetzt wird (Blütenblätter bzw. Solitaire-Spielkarten).
Wie zuvor unterstützen auch hier die Vokalqualitäten die Intention, die Gleichförmigkeit der Felder herauszustellen. Fünfmal findet sich in „rechteckige Felder“ der Vokal [e] bzw. [ǝ], der als häufigster Vokal der deutschen Sprache prädestiniert ist, die Ordnung und Aufgeräumtheit der Landschaft zu versinnbildlichen. Wagner erkennt, dass die Vokalqualität den Sinngehalt verstärkt. So ist auch der zweite Teil der Gleichsetzung von Assonanzen bestimmt. Hier rückt der Vokal [i] in den Mittelpunkt:

die karten eines riesigen solitairespiels

Wieder endet die Strophe mit einem unbewegten Bild. „Auch die zweite Strophe wendet die Landschaftseindrücke in die Stille, in das Bild eines Solitairespiels“,8 so Hartung.

Arne Rautenberg, dessen Texte, so Wagner, „an die Tage der Konkreten Dichtung denken lassen“,9 gewinnt auf ähnliche Weise einen semantischen Mehrwert aus der Klangstruktur von Wörtern. Rautenberg erkennt, dass die stehende Wendung „der Ernst des Lebens“, die jeden weniger ernsten Blick auf die Welt und ihre Umstände als unzulässig diskreditieren will, ebenfalls fünfmal jenen strengen Vokal [e] (und keinen anderen als diesen) enthält, und dass die Vokalstruktur die rigide Direktive der Redewendung so zugleich anzeigt und entlarvt. Somit unterläuft Rautenberg diese Wirkung und kehrt sie in ihr Gegenteil, indem er in der Redewendung die Einfalt des fünffachen Buchstabens e durch die Vielfalt der fünf Vokale a, e, i, o und u ersetzt: „DAR ERNST DIS LOBUNS“10 wird so zum hintersinnigen Titel von Rautenbergs Publikation, der den spielerischen Charakter seiner experimentellen Texte beispielhaft ankündigt.

III.
Haben die ersten beiden Strophen noch Stille und Stillstand beschrieben, so lässt sich in der dritten Strophe eine Bewegung ausmachen:

in der ferne nahmen zwei windräder
eine probebohrung im himmel vor

Die Räder des Zuges stehen still, aber die Windräder drehen sich. Wagner schreibt 1998 – dem Zeitpunkt der Erstveröffentlichung des Gedichts – über ein Novum im Landschaftsbild. Vermutlich ist „hamburg – berlin“ das erste Gedicht in deutscher Sprache überhaupt, das sich des Sujets „Windräder“ annimmt.
„Können Windräder bohren?“,11 fragt Jochen Hieber in seiner Besprechung von Probebohrung im Himmel, und tatsächlich scheint hier zumindest eine kühne Metapher, wenn nicht eine Katachrese, ein Bildsprung vorzuliegen. Die Metapher mutet widersinnig an, wenn man meint, die Bohrung müsse vertikal, streng himmelwärts erfolgen. Die Drehbewegung der Windräder erfolgt aber horizontal. Auch wenn sich die Rotorblätter dem Betrachter zuwenden, stellt sich das Bild der „Himmelsbohrung“ nicht ein. Anders ist es, wenn man das Windrad von hinten betrachtet, wenn man also in Richtung des Windes blickt, der das Windrad antreibt: Dann scheint das Windrad tatsächlich zu bohren, und zwar im horizontnahen Himmel – in der Weite, nicht in der Höhe. Die dritte Strophe führt somit die Reihe der abgewandten Dinge fort: Auch das Windrad kehrt, wie schon das Dorf und die Bäume, dem Betrachter den Rücken zu. Das Gedicht „hamburg – berlin“, das „Bewegung, ja Dynamik verspricht, bleibt ganz der Reglosigkeit verschrieben“.12 Lediglich die Rotoren drehen sich um ihre eigene Achse und erzeugen eine Bewegung, die keine weitere auslöst.
Wagner betont die große Bedeutung, die die „Klangstruktur des Wortes“13 für seine Gedichte hat. Der Verzicht auf herkömmliche Endreime stellt die lautliche Besonderheiten des Gedichts und die Nutzung subtilerer Reimformen desto deutlicher heraus. Sind es in der zweiten Strophe die Assonanzen, die Qualitäten der Vokale, die den Sinngehalt des Gedichts verstärkt haben, so stehen in der dritten Strophe die Konsonanten im Mittelpunkt. „Auch Konsonanz ist eine Art zu reimen“,14 sagt Wagner, der sich hierin als Schüler Peter Rühmkorfs erweist. Beide eint ihr Vertrauen auf Reim und Klang sowie das Verständnis, dass Klang und Gehalt im Gedicht eine Einheit bilden. Peter Rühmkorf preist in agar agar – zaurzaurim Reime als „bombensicheres Beschwörungsmittel“15 und betont das „nahezu ungebrochene Vertrauen auf den akustischen Gesellschaftsvertrag“.16 Wagner sieht sich explizit in der Tradition von agar agar – zaurzarim, „dieser großen Verteidigung des Reimes“,17 und sagt im Geiste Rühmkorfs:

Der Reim soll also durchaus eine Brüchigkeit aufweisen, nichts Idyllisches. Er trägt einen Bruch in sich – und das wiederum trägt in die Gesellschaft und in die Politik hinein.18

Durch Reime, folgert Wagner, werde der Dichter in neue „bildliche und metaphorische Bereiche“19 gezwungen.
Die Plosive [p] und [b] und der Vibrant [r] im Wort „Probebohrung“ evozieren die hämmernden und vibrierenden Geräusche einer Bohrung. Wagner erkennt also eine onomatopoetische Qualität des Wortes „Probebohrung“ und nutzt sie, wobei er auf die suggestive Wirkung des Wortklanges vertraut. Doch anders als etwa Ernst Jandl, dessen „Sprechgedichte“ sich der Bearbeitung des Wortmaterials verdanken, der „zerlegung des wortes und zusammenfügung seiner elemente zu neuen, ausdrucksstarken lautgruppen (schtzngrmm, ode auf N)“,20 nutzt Wagner vorhandene, unverdächtige Wörter und stellt eine bestehende Klangqualität heraus, statt eine neue zu erzeugen. Es handelt sich also nicht um Lautmalerei im Sinne einer Klangnachbildung. Wagners dichterische Leistung besteht stattdessen darin zu erkennen, dass das Wort „Probebohrung“ – zufällig – eine onomatopoetische Qualität hat, so dass die Lautung des Wortes – und somit sein natürlicher Klang – den intendierten Sinn des Verses unterstützen kann. Wagner versetzt das Wort „Probebohrung“ aus dem ihm angestammten, technischen Bereich in einen lyrischen und gebraucht es wie ein Readymade, das, obwohl unverändert, in einem anderen Kontext eine neue Bedeutung gewinnt.
Das beharrliche Bohren, das in den Lauten [r], [p] und [b] anklingt, kontrastiert mit dem Nasal [m] und dem Approximanten [l] im nachfolgenden „im Himmel“. Der „Himmel“ ist der Ort Gottes sowie der Toten. Der komische Effekt, der sich aus dem Aufeinandertreffen der profanen mit der himmlischen Sphäre ergibt, entspringt dem Stilmittel Bathos: der Begegnung des Erhabenen mit dem Lächerlichen. Insbesondere der Laut [r] bereitet den größtmöglichen Kontrast zu den weichen Lauten von „im Himmel“ im zweiten Teil der Metapher vor. Jandl hat die Qualität des Konsonanten r so beschrieben:

aller ingrimm rollender rrr gilt der humorlosigkeit21

Kontraste zeigen sich ebenso in den Vokalqualitäten: In den betonten Silben von „probebohrung im himmel“ steht der mittlere, hintere, lange Vokale [o:] in „probebohrung“ dem hohen, vorderen, kurzen Vokal [i] in Himmel gegenüber. So klingen das niedere Irdische und das hohe Himmlische in den Vokalen an. Die dritte Strophe liefert damit, so Hartung, die „metaphysische Pointe“22 des Gedichts: „In dieser Metapher [d.i. „Probebohrung im Himmel“, S. M.] kollidiert unsere Technologiehybris mit dem Gottesgedanken“.23 Tatsächlich aber eröffnet erst der Schlussvers die gesamte metaphysische Implikation des Gedichts. Das Nunc stans der ersten Strophe hat ein gewichtigeres Nunc stans in der dritten Strophe erst vorbereitet:

gott hielt den atem an

Eine Probebohrung ist ein Unterfangen mit ungewissem Ausgang; eine Probebohrung im Himmel desto mehr. Hält Gott aus Sorge, entdeckt zu werden, den Atem an, wie die Auktionäre im Moment der Entscheidung, vor dem dritten Schlag des Auktionators, den Atem anhalten? Volker Sielaff schreibt:

Die verhaltene Ironie der ersten beiden Verse ermöglicht das stille Pathos des dritten.24

Womöglich ist dieses Pathos aber weit weniger still, als es den Anschein hat, und beruft sich auf eine lange literarische Tradition. Nicht nur durch die Wörter „Himmel“ und „Gott“, sondern auch durch einen Textverweis, einen intertextuellen Bezug, verweist das Gedicht auf die Sphäre der Metaphysik. Denn die Bibel kennt eine Geschichte, zu der die dritte Strophe von Wagners Gedicht deutliche Parallelen zeigt: Die Bohrerspitze, die Wagner in den Turbinen der Windräder sieht, ist nicht die erste Spitze, die in den Himmel getrieben wird und Gott infrage stellt: Der „Turmbau zu Babel“ (Gen 11, 1–9) schildert die Absicht der Menschen folgendermaßen:

Wohlauf, laßt uns einen Turm bauen, des Spitze bis an den Himmel reiche, daß wir uns einen Namen machen! (Gen 11, 4)25

Bekanntlich führt das Vorhaben zu keinem guten Ende für die Menschen:

Wohlauf, lasset uns herniederfahren und ihre Sprache verwirren, daß keiner des andern Sprache verstehe! Also zerstreute sie der Herr von dort in alle Länder, daß sie mußten aufhören die Stadt zu bauen. (Gen 11, 7–8)

Deutlich sind Parallelen zwischen der biblischen Verfehlungsgeschichte und der Lesart, die Wagners Gedicht anbietet: technologische Hybris als Grund menschlichen Scheiterns, und Sprachverlust als Folge. Der Halt auf freier Strecke, den der Zug außerfahrplanmäßig machen muss, erscheint so betrachtet als Vorbote eines größeren technologischen Scheiterns; die im Gedicht beschworene Stille als Ankündigung eines Sprachverlusts. Bemerkenswert ist zudem eine formale Parallele: Neun Verse umfasst Wagners Gedicht „hamburg – berlin“, neun Verse lang ist auch die Geschichte „Turmbau zu Babel“.
Vor dem Hintergrund dieses Bibelbezugs gewinnt auch das Stehende Jetzt eine höhere Bedeutung für Wagners Lyrik: Nunc stans ist die Zeitform Gottes.26 Auf die Bedeutung des Nunc stans für Wagners Lyrik hat bereits Iain Galbraith hingewiesen. In „elegie für knievel“, 2010 im Gedichtband Australien veröffentlicht,27 heißt es:

wie hier, in yakima, washington,
mit diesem zerbeulten mond überm stadion
und tausenden, denen der atem stockt:
fünfzehn, zwanzig busse und das rad
steht in der luft.

Galbraith lenkt das Augenmerk des Lesers auf „das Schlussbild dieser modernen heroischen Elegie mit seinem aufgeladenen nunc stans in der letzten Zeile.“28 Dieselbe Spannung zwischen scheinbarem Stillstand und notwendigem Fortschreiten ruft auch das gleichfalls in Australien veröffentlichte Prosagedicht „frombork“ auf, in dem es über zwei Arten von Singvögeln aus der Gattung Luscinia im Fromborker Domgarten heißt:

wir hören ihren gesang, und doch sind sie da
[…]
während die erde stillsteht, vorwärtsrast
29

Auch im letzten Gedicht von Probebohrung im Himmel, „im norden“, findet sich, wiederum im Schlussvers, die Gottesreferenz in Verbindung mit einem Nunc stans:

im langen riedgras kauern die kirchen aus weißem
rauhen stein: aus schmalen fenstern blicken
sie unverwandt und trotzig in den himmel,

wartend darauf, daß gott zuerst blinzelt.30

Hartung schreibt:

Jan Wagner als Analytiker einer durchrationalisierten technischen Welt, als metaphysischer Dichter – das ist der halbe Wagner: Denn Kritik und Metaphysik ergreifen uns nur dort, wo der Gedanke sinnlich wird und wir die Fülle der Welt erfahren. Wagner ist ein Dichter solcher Fülle.31

Auch das Bild des Solitairespiel in der zweiten Strophe von „hamburg – berlin“ offenbart vor diesem Hintergrund metaphysische Implikationen: Wer könnte spielen, dem „die karten eines riesigen solitairespiels“ nicht zu groß wären, und wessen Standort wäre hoch genug über der Erde, mithin im Himmel, so dass sich dieses Spiel überblicken ließe? Gott würfelt nicht, aber vielleicht spielt er Karten, scheint Wagners Gedicht anzudeuten.

IV.
„hamburg – berlin“ kann in mehrfacher Hinsicht – auf den Ebenen von Motivik, Metaphorik, Strophen-, Reim- und Klangformen – als Blaupause für spätere Gedichte Jan Wagners gelten. Nicht nur steht es, wie beschrieben, am Beginneiner Reihe von Gedichten, in deren Zentrum das Motiv des Nunc stans steht. Auch die Gedichtform – drei Strophen à drei Verse – verwendet Wagner mehrmals, etwa in den Gedichten „kleinstadtelegie“32 und „früher sturm“33 in seinem zweiten Band Guerickes Sperling. „früher sturm“ weist aber auch über die Strophenform hinaus Parallelen zu „hamburg – berlin“ auf. Auffällig ist, wie beide Gedichte die gleichen landschaftlichen Begebenheiten beschreiben und metaphorisch aufladen, und diese sogar in den entsprechenden Strophen verhandeln. In der jeweils ersten Strophe der beiden Gedichte heißt es „das land“ („hamburg – berlin“) bzw. „übers land“ („früher sturm“), in der zweiten Strophe „rechteckige felder“ bzw. „gelbes heimwärtsleuchten der felder“ und „in gruppen die bäume“ bzw. „das schwanken jedes baumes“, Wie in der dritten Strophe von „hamburg – berlin“ „ein dorf“ die Besiedelung der Landschaft kennzeichnet, so zeigen in der dritten Strophe von „früher sturm“ die „straßen“ die Anwesenheit von Menschen an. Wo schließlich in „hamburg – berlin“ in der dritten Strophe der Wind die Windräder antreibt, vernehmen wir in „früher sturm“ in der dritten Strophe „draußen das heulen des sturms“. Diese augenfällige Parallele verdient eine gesonderte Betrachtung an anderer Stelle.
Das Motiv der Bahnfahrt greift Wagner gleichfalls mehrmals wieder auf, und auch die Verbindung von Himmel- und Bahn-Metaphern findet sich nicht nur in „hamburg – berlin“. Im Gedicht „des toten lenins reise nach tjumen“ heißt es:

das dunkel im waggon, das dunkel draußen.
das leise rattern der schienen, dann ein pfiff

von vorne, von der lok, der jubelnd versuchte,
sich in den spalt zwischen himmel und erde zu zwängen:

der ural gab uns an die ebene frei.34

– und noch einmal, als Reprise in der Coda:

das dunkel im waggon. das dunkel draußen.
das leise rattern der schienen

Im Gedicht „in mitteleuropa“ ist „das quietschen eines güterzuges, morgens: / ein keil, der sich in den unreifen himmel treibt“.35
Michael Braun zufolge liegt ein Missverständnis vor, wollte man Wagner bloß „als formbewussten Naturidylliker, der die ganze Flora und Fauna durchbuchstabiert“,36 interpretieren. Wagners Naturbetrachtungen sind gleichwohl die Basis seiner Poetologie, denn von ihr ausgehend entwickelt er seine reflektierte Technologiekritik. Ähnlich wie in der Physikotheologie Barthold Heinrich Brockes’ gewinnt Wagners Lyrik ihre Bedeutung durch die Transformation des Gesehenen in poetische Bilder und die Transzendierung des Alltäglichen. Das Spannungsverhältnis zwischen der Profanität einer beschriebenen Situation und den ihr eingeschriebenen metaphysischen Implikationen macht „hamburg – berlin“ für diese Methode beispielhaft. Wagners Lyrik erweist sich in Probebohrung im Himmel und besonders in „hamburg – berlin“ als „Schule des Sehens“,37 die sich im Blick aus dem Zugfenster zwischen Halt auf offener Strecke und Weiterfahrt bewährt. Jan Wagners Modus vivendi ist die Weltbeobachtung. Sie richtet sich auf die Erde wie auch den Himmel.

Sven Meyer, aus: Christoph Jürgensen, Sonja Klimek (Hrsg.): Gedichte von Jan Wagner. Interpretationen, mentis Verlag, 2017

Sven Meyer: Zu Jan Wagners Gedicht „hamburg – berlin“

Bauernaufstand 2024

Vor 500 Jahren waren die Bauern nicht so friedlich, wie das vor 50 Jahren  eine Briefmarke der DDR, des Arbeiter- und Bauernstaats, suggeriert. Der Bauernaufstand war jedenfalls bedeutender, als heute jede  Protestaktion der Landwirte, die unsere Städte, auf ihren lärmenden dicken Traktoren hockend, fast wie mit stinkenden Panzern durchqueren und nicht etwa das Klima, sondern in erster Linie ihre alten Privilegien: die hohen staatlichen Subventionen retten wollen.