„Vom Holocaust haben wir nichts gewusst“. Die Nachkriegs-Ausrede vieler Deutscher: eine Lebenslüge. Das weist der US-Historiker Robert Gellately in seiner neuen Studie „Backing Hitler“ nach.
„Es gibt einen Ort, der in Deutschland sofort Kontroversen auslöst, sofort Ablehnung oder Schuldgefühle weckt, einen Ort, von dem man annehmen könnte, dass alle ihn kennen: Auschwitz. Doch jeder fünfte Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren hat davon noch nichts gehört. Das ist der eine Teil der Wirklichkeit. Der andere: Viele von denjenigen, die mit Sicherheit etwas über die Vernichtung der rund sechs Millionen Juden und über den tödlichen Terror gegen andere Minderheiten wussten, behaupten bis heute, davon damals nichts gehört zu haben. Auschwitz war weit weg, irgendwo im Osten. Die Wirklichkeit ist aber auch hier noch eine andere. Die meisten Menschen wurden nicht in Auschwitz, sondern in einem der vielen anderen Lager umgebracht. Tausende davon gab es auch in Deutschland. Der Mord geschah also auch in der Nachbarschaft.“ (Volker Steinhoff) s.a. Das Kontinuum der NS-Medizin
Die Denunziation von Blutsverwandten, wie im Fall des Arztdichters da Silva, gehörte keineswegs zu den historischen Einzelfällen mit tödlichem Ausgang: 300 Jahre nach dem Autodafé von Lima, als mit dem II. Weltkrieg der NS-Völkermord begann, wurden immer mehr widerständige Menschen von ihren nächsten Angehörigen an die Gestapo verraten, um inhaftiert oder hingerichtet zu werden. Allerdings fiel auch die Gestapo nicht auf jede Anzeige eines denunziationswilligen Ehepartners herein.
Die Erforschung der Verbrechen des Nationalsozialismus hat der Historiker Götz Aly mit bedeutenden Büchern vorangetrieben, darunter ‚Vordenker der Vernichtung‘ (1991, mit Susanne Heim), ‚Hitlers Volksstaat‘ (2005) und ‚Warum die Deutschen, warum die Juden?‘ (2011). In seinem jüngsten Buch ‚Europa gegen die Juden. 1880-1945‘ zieht er eine Art von Summe – indem er eine markante These zu den Möglichkeitsbedingungen des Holocaust umfassend belegt und begründet, mit ganz Europa im Blick. Der Antisemitismus war demnach nicht die Sache einer Minderheit von irrationalem Hass getriebener Fanatiker. Für die Verdrängung der Juden aus dem bürgerlichen Leben gab es rationale Gründe – rational im Sinne von: erklärbar, aus den materiellen Interessen derjenigen, die von der Beseitigung der Konkurrenz profitierten. Mit verblüffendem Effekt zitiert Aly aus der prophetischen Geschichtsschreibung des bayerischen Finanzbeamten Siegfried Lichtenstaedter, der 1942 in Theresienstadt ermordet wurde. Es war möglich, den Holocaust vorauszusagen. Dann hätte er auch verhindert werden können. Und dann sollte es wenigstens möglich sein, ihn zu erklären.[…]
In diesem Band ist auch der Aufsatz enthalten: Karl F. Masuhr und Götz Aly: Der diagnostische Blick des Gerhard Kloos:
Götz Aly, geboren 1947, ist Historiker und Journalist. Er arbeitete u.a. für die »taz«, die »Berliner Zeitung« und als Gastprofessor. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt.
In diesem lesenswerten Buch finden sich auch einige Kurzbiographien von Ärzten, die Dichter waren.
Auch wenn »globale Menschenrechte« mittlerweile zum Standardrepertoire des politischen Diskurses gehören, ist ihre philosophische Rechtfertigung nach wie vor umstrittenes Gebiet. Während zum Beispiel die einen sagen, Menschenrechte seien das trojanische Pferd, mit dem der Westen seinen neoliberalen way of life in alle Welt zu exportieren trachtet, verbinden andere mit der Idee einer Weltbürgerschaft mit verbrieften Rechten einen unzulässigen Eingriff in die Souveränität demokratischer Staaten. Seyla Benhabib entwickelt in ihrem Buch ein diskursethisches Instrumentarium, um solche falschen Gegensätze zu überwinden. Anhand zahlreicher Beispiele – Kopftuchstreit, Flüchtlingspolitik, humanitäre Interventionen – zeigt sie Wege zu einem engagierten, kontextsensitiven demokratischen Kosmopolitismus jenseits von Interventionismus und Indifferenz.
Neuerscheinung, Debut-Roman von Hilmar Klute
Hilmar Klute schreibt in einer ganz eigenen, atmosphärisch dichten Sprache, und wie nebenbei erkundet er ein Panorama der deutschen Nachkriegsliteratur, wie man es noch nie gelesen hat.
Michelle Robinson Obama schrieb eine – hervorragend ins Deutsche übersetzte – Autobiografie, die bei mir ein zunehmendes Gefühl der – Bewunderung auslöste. Es sind erwartungsgemäß keineswegs selbstgefällige Memoiren einer ehemaligen First Lady, sondern im Gegenteil ebenso bescheidene wie eindrucksvolle Schilderungen einer außergewöhnlichen Vita, die schon vor dem Einzug Michelle Obamas ins Weiße Haus spannend war: Die ersten hart erkämpften Erfolge beim Klavierspiel, in Schule, Studium und Beruf, die erste Liebe und Lust, bevor sie dem jungen Obama begegnete, der Ihr Leben gehörig durcheinander wirbelte, und vor allem, als sie selbst eine beispielhafte politische „Frauenrolle“ übernahm.
Ihre von Angst und Hoffnung bestimmten Erfahrungen rufen, ob man will oder nicht, Gänsehaut hervor; ihre von Menschlichkeit, Klugheit und Liebenswürdigkeit bestimmte Art, aufregende Einzelheiten sanft, kritisch, geist- und stilvoll zu berichten, empfehlen dieses wichtige Buch zugleich als aktuellen Bericht aus einem Amerika, dass uns sonst soviel Sorgen und Furcht (Fear) bereitet. (Marc S. Huf, 13. November 2018)
Bob Woodward’s book „Fear: Trump in the White House“ shows a decrease of expertise in all respects. I agree with the author writing the following lines:
„Members of his staff had joined to purposefully block some of what they believed were te president’s most dangerous impulses. It was a nervous breakdown of the executive power of the most powerful country in the world.“In addition my opinion: The “Expert-Killer-Syndrome” is spreading through the White House. The President relies on a great number of absolutely loyal experts – but he replaces these experts ongoing. He praises the dismissed consultants as well as the recruited ones in public, and on this occasion gladly welcomes their homages to him. Not long and the President starts eyeing them, and they start spying each other. It seems as if they do not work together but walk around each other – professionally.
Dieter Beck was the first to describe systematically the dynamics of this process which he called the “Expert-Killer-Syndrome”. This syndrome is defined by the decay of a trustworthy relationship among guidance-seekers and consultants. The person seeking advice at first and for a short period idealizes the consultant. The relationship shatters as soon as the consultant does not meet all of their expectations.
So medical experts and hospital directors lose their reputation immediately and entirely. Like with the frustrating contact to “professional patients” who are the horror of all medical doctors, the relationship ends because of their enhanced claims and a variety of discomforts nobody can remedy. The exalted behavior of the guidance-seekers is not the result of individual disease, for as in this case it could probably be cured. Rather it is rooted in an irreparable interpersonal relationship.The consultants are left at a loss, and the guidance-seeker remains in cluelessness, ongoing. There is a consulting-crisis in the White House, anyone can see. However, it might resolve itself due to the decrease of expertise in all respects.Das “Koryphäen-Killer-Syndrom“
Im Weißen Haus herrscht, für jeden erkennbar, eine Beraterkrise. Bob Woodward (“Furcht“) berichtet, dass sich die Präsidentenberater zusammengeschlossen haben, um die gefährlichsten Impulse des Präsidenten zu blockieren. Sie halten brisante Akten von ihm fern und kontrollieren ihn ständig, um schwere politische Schäden zu verhüten.
Es ist ein “Nervenzusammenbruch“ der Exekutive in diesem mächtigsten Land der Welt.
Der Präsident ist auf ein Heer absolut loyaler und kompetenter Experten angewiesen, die er allerdings ständig auswechselt. Trump kritisiert nicht nur, sondern lobt auch die entlassenen wie die neu eingestellten Berater öffentlich und nimmt stets gern deren Huldigungen entgegen. Meist dauert es nicht lange, bis der Präsident und sein Personal sich gegenseitig belauern. Es scheint so, als gingen sie gar nicht professionell miteinander um, sondern nur noch umeinander herum.
In der Psychosomatik ist diese Beraterkrise als “Koryphäen-Killer-Syndrom“ (“Expert-Killer-Syndrome“) bekannt. Der Erstbeschreiber Dieter Beck (1977) versteht darunter den Verfall einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Ratsuchenden und Beratern. Wenn der anfangs idealisierte Berater nicht alle Erwartungen des Ratsuchenden erfüllt, zerbricht diese Vertrauensbeziehung. Im Klinikbetrieb, wie im Geschäftsleben und in einer politischen Administration, kommt es dann regelmäßig zur Entlassung von Experten. Im Weißen Haus herrscht, für jeden erkennbar, eine Beraterkrise, die sich wegen allseits abnehmender Expertise, so scheint es, von selbst erledigen dürfte.
Bob Woodward’s book „Fear: Trump in the White House“ shows a decrease of expertise in all respects. I agree with the author writing the following lines:
„Members of his staff had joined to purposefully block some of what they believed were te president’s most dangerous impulses. It was a nervous breakdown of the executive power of the most powerful country in the world.“
In addition my opinion: The “Expert-Killer-Syndrome” is spreading through the White House. The President relies on a great number of absolutely loyal experts – but he replaces these experts ongoing. He praises the dismissed consultants as well as the recruited ones in public, and on this occasion gladly welcomes their homages to him. Not long and the President starts eyeing them, and they start spying each other. It seems as if they do not work together but walk around each other – professionally.
Dieter Beck was the first to describe systematically the dynamics of this process which he called the “Expert-Killer-Syndrome”. This syndrome is defined by the decay of a trustworthy relationship among guidance-seekers and consultants. The person seeking advice at first and for a short period idealizes the consultant. The relationship shatters as soon as the consultant does not meet all of their expectations.
So medical experts and hospital directors lose their reputation immediately and entirely. Like with the frustrating contact to “professional patients” who are the horror of all medical doctors, the relationship ends because of their enhanced claims and a variety of discomforts nobody can remedy. The exalted behavior of the guidance-seekers is not the result of individual disease, for as in this case it could probably be cured. Rather it is rooted in an irreparable interpersonal relationship.The consultants are left at a loss, and the guidance-seeker remains in cluelessness, ongoing. There is a consulting-crisis in the White House, anyone can see. However, it might resolve itself due to the decrease of expertise in all respects.
Was wäre, wenn wir täglich das Bild des größten Kaisers der Welt, der Rom wieder groß machte, und ständig seine Untertanen mit seinen öffentlichen Auftritten tyrannisierte, auf dem Bildschirm betrachten müssten? Sollte sich das genervte Publikum lieber totstellen?
GERHARD FINK berichtet über Tostellversuche: Wenn Nero als Sänger auftrat, durfte niemand, auch nicht, wenn er zwingende Gründe hatte, das Theater verlassen. So sollen etliche Frauen während der Vorstellung Kinder geboren haben, und viele Männer, die von Gesang und bestelltem Beifall genug hatten, sprangen, da die Stadttore verriegelt waren, heimlich von der Mauer oder stellten sich tot und ließen sich wie zum Begräbnis hinaustragen.
Aus den Täterbiographien der Medizinprofessoren Dr. Dr. Werner Catel und Dr. Dr. Gerhard Kloos lässt sich zweierlei ersehen: Zum einen wurden die im geheimen staatlichen Auftrag begangenen Untaten nicht verfolgt, sondern geduldet und gerechtfertigt, zum andern konnten die Täter mit ihren im Geist der NS-Medizin verfassten Schriften noch jahrzehntelang Schaden anrichten, ohne dass die Studierenden der Medizin oder die Kranken davor gewarnt wurden.
Werner Catel (1894–1981) setzte sich für die aktive Sterbehilfe als „Auslöschung“ und „Erlösung“ von Menschen mit Behinderungen ein.
Als Sechzehnjähriger hatte er eigenmächtig beim Sterben seiner Großmutter durch Verdoppelung der ärztlich verordneten Opium-Dosis nachgeholfen. Seither faszinierte ihn die Machtvorstellung, überlegt, indiziert, tatkräftig einzugreifen, um gezielt Menschen zu töten, also Sterbende von einem Leiden und leidende Kinder vom Leben zu „befreien“.
Er schrieb auch zwei Theaterstücke und mehrere Gedichtbände.
1932 wurde er Professor für Kinderheilkunde an der Charité, 1933 Ordinarius in Leipzig. Er war als Gutachter und Berater mitverantwortlich für den auf den 1.9.1939 datierten Gnadentod-Erlass: Vom ersten Tag des Krieges an wurde die „Euthanasie“-Aktion zur Ermordung von Epilepsiekranken, körperlich und geistig behinderten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in die Tat umgesetzt.
Zehn Jahre später wurde eine staatsanwaltschaftliche Untersuchung wegen Totschlags eingestellt. Erst 1960 gab Catel sein Amt als Direktor der Universitätskinderklinik Kiel auf. Doch schon 1962 befürwortete er wieder die fatale „Euthanasie“. Dass er sich nicht für seine Taten verantworten musste, wiegt umso schwerer, als er die eugenischen Auffassungen der NS-Zeit weiterverbreiten konnte.
Dem Werdegang Werner Catels gleicht in weiten Teilen die Karriere des Professors Dr. med. Dr. phil. Gerhard Kloos (1906–1988), der sich trotz seiner Beteiligung an der NS- „Euthanasie“-Aktion ebenfalls einer gerichtlichen Verurteilung entziehen konnte.
Gerhard Kloos hatte eine Dissertation über Synästhesien (1931) und eine weitere über Täuschungsphänomene (1933) verfertigt. Während des Krieges leitete er in Stadtrhoda bei Jena die Kinderfachabteilung [ohne Zusatz: für „Euthanasie“].
Nach dem Krieg war Kloos Direktor der Landesklinik in Göttingen. Er löste den widerständigen Klinikdirektor Ewald ab, der sich während der NS-Zeit g e g e n die NS-„Euthanasie“ gewandt hatte. Generationen von Studierenden der Medizin, die nichts von seinem Doppelleben ahnten, orientierten sich an dem Grundriß der Psychiatrie und Neurologie (1944) und einem Intelligenztest des Gerard Kloos. In diesen Kompendien herrschten rassenhygienische Begriffe und antisemitische Thesen vor. Die „Intelligenztest-Frage 16“ hatte z.B. gelautet: „Warum lehnen wir die Juden ab?“ In den Nachkriegsauflagen bekannte sich Kloos zur Kunst des Weglassens. Seine im Duktus der NS-Psychiatrie geprägten Schriften wurden allerdings noch nach seinem Tod (1988) verbreitet. Vgl. Masuhr, K.F. und Aly, Götz: Der diagnostische Blick des Gerhard Kloos.In: Reform und Gewissen, S. 80-106. Berlin 1. Aufl. Berlin 1985, 2. Aufl. Bielefeld 1989.
Klaus Barbie war vom bolivianischen Geheimdienst auf die Spur der Guerilleros gesetzt worden. So kam es, dass vor 50 Jahren Commandante Ernesto Guevara mithilfe des deutschen Adlers aufgespürt wurde.
Der bekannte Heidelberger Mediziner Prof. Dr. Dr. Gotthart Schettler (ehemals NSDAP-Funktionär) hatte sich gemeinsam mit dem Ministerpräsidenten Hans Filbinger (ehemals NS-Richter) in den 1970ern gegen die Hochschulreform gestellt. Jetzt äußerte sich ein Verfolgter des NS-Regimes:
Mit den Worten „Gotthard Schettler verunziert die Ehre von Falkenstein“, weist Hans Selbiger auf die Nazi-braune Vita des 1917 in Falkenstein geborenen späteren Arztes hin. Ihm die Ehre abzuerkennen, führt Selbiger nicht in erster Linie zurück auf die Mitgliedschaft in der NSDAP, in die der Falkensteiner in jungen Jahren eintrat.“ Schettler hatte in dem Gutachten Selbigers Verfolgungsschäden mit diesen Worten anzweifelt:
„Die jüdische Rasse scheint zu Gicht, Diabetes mellitus und familiärer Hypercholesterinämie…. zu neigen“. Damit hatte Schettler den Stab über Horst Selbiger und wohl zahlreichen anderen, Entschädigung fordernden Holocaust-Opfern gebrochen. (Cornelia Henze)
„Meine gegenwärtige Lage nötigt mich, den Grad eines Doktors der Medizin anzunehmen“, notiert Friedrich Schiller, als er im Jahr 1782 eine poetische Pause einlegt, um sich der „Philosophie der Physiologie“ zuzuwenden. „Vielleicht umarmt mich dann meine Muse umso feuriger, je länger ich von ihr geschieden war …“
Von den bekannten Medizinern, die in den letzen drei Jahrhunderten als Schriftsteller hervortraten, sind neben Friedrich Schiller, dessen 250. Geburtstag im Jahr 2009 gefeiert wurde, weitere bedeutende Dramatiker wie Georg Büchner und Arthur Schnitzler besonders zu erwähnen, da sie – auf der Suche nach Spuren der Psychosomatik in ihrem Werk und Werdegang – die Richtung angeben können. Sie waren wissenschaftlich tätig, gewannen wichtige psychologische Erkenntnisse und rebellierten – als Arztsöhne – nicht nur gegen ihre Väter, sondern auch gegen die herrschende Medizin und Gesellschaft. Der junge Privatdozent Georg Büchner wurde darüber zum Revolutionär. Arthur Schnitzler, der die innovative Erzähltechnik des inneren Monologs durchsetzte, wird als literarisches Pendant Sigmund Freuds bezeichnet.
Drei Ereignisse der letzten Zeit belegen die Spannbreite des Arztdichter-Themas und die noch immer gültige Sprengkraft des Zusammenwirkens von Medizin und Dichtkunst: Während der Chirurg Uwe Tellkamp mit dem Deutschen Buchpreis 2008 und der Neurologe Jens Petersen mit dem Ingeborg-BachmannPreis 2009 ausgezeichnet worden sind, hat sich der Psychiater und Lyriker Radovan Karadzic wegen des Verdachts auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord vor dem Haager Tribunal zu verantworten.
Die meisten Autoren wurden nicht als Ärzte bestimmter Fachrichtungen berühmt, sondern erst bekannt, als sie aus ihrer Berufsrolle heraustraten, um schriftstellerisch und manchmal auch in dieser Konsequenz politisch tätig zu werden, wie z. B. der Nervenarzt und Essayist Heinrich Hoffmann, der 1848 ins Frankfurter Vorparlament als Abgeordneter einzog. Der „Struwwelpeter“ brachte ihm weltweiten Ruhm. Hoffmann verhielt sich nicht anders als viele sozialkritisch eingestellte Arztdichter des 20. Jahrhunderts wie Archibald Joseph Cronin, Friedrich Wolf, Heinar Kipphardt, und Wilhelm Kütemeyer. Das tätige Reisen als Schiffsarzt diente der Gesundheit der Arztdichter Gottfried Benn, Peter Bamm, Sir Arthur Conan Doyle und Michael Bulgakow. Ärzte reisen offenbar gern um die weite Welt, darunter auch die Schriftsteller William Somerset Maugham, Georges Duhamel, Axel Munthe und schon im 17. bzw. 19. Jahrhundert die Lyriker Paul Fleming und John Keats, die allerdings früh einer Infektionskrankheit nach weiten Reisen erliegen. Das Besondere an „Dichterärzten“ Was unterscheidet die „Dichterärzte“ (T. Nasemann 1993) im Wesentlichen von anderen Ärzten und Dichtern?
Was unterscheidet die „Arztdichter“ wie Schiller, Keats, Tschechow, Döblin, Benn, Goetz, Antunes im Wesentlichen von anderen Ärzten und Dichtern?
• Naturwissenschaftlich orientierte Mediziner berichten lebensnäher und detailreicher als andere Schriftsteller über Erfahrungen mit der Körpermedizin.
• Geisteswissenschaftlich geschulte Mediziner zeichnet vor allem ihre Fähigkeit zu phänomenologischer Betrachtung aus.
• Arztdichter verfügen über ein besonderes Sensorium, um das wahrzunehmen, was sie als Ärzte und Dichter betrifft, worum es in den schönen und heilenden Künsten geht, und was sie selbst angeht, weil es ihnen nahe geht.
• Der Doppelberuf verhilft Arztdichtern zu alltäglichen Einblicken und einzigartigen Erfahrungen im Umgang mit menschlichem Leben und Leiden. Sie konfrontieren sich auf verschiedenen Ebenen mit sozialem Elend, das mit medizinischen und literarischen Mitteln kaum zu ändern ist und entschiedenes politisches Handeln herausfordert. Aus diesem Grund gehen einige Autoren in die Politik, andere werden zu Revolutionären.
Wenn Mediziner wie die jungen Rebellen Friedrich Schiller und Georg Büchner auf der Flucht vor der Obrigkeit waren oder – wie Jean-Paul Marat und Ernesto Che Guevara – in letzter Konsequenz als Revolutionäre agierten, mussten sie früh ihr Leben lassen. Ernst Weiß und Jan Korczak wurden wie die Mediziner der „Weißen Rose“ zu Opfern des NS-Terrors, Hans Carossa und Louis Ferdinand Céline in Abwesenheit zum Tod verurteilt, aber gerettet bzw. begnadigt. Friedrich Schiller, Michael Bulgakow und Heinar Kipphardt desertierten, neun Arztdichter kamen in Haft, sechs gingen ins Exil. „Arzttum ist immer Kämpfertum“, hieß es im Kreis der Militärärzte des Zweiten Weltkriegs (A. Neumann 2005). Uniformität und Konformität verlängerten die durchschnittliche Lebenserwartung signifikant. Dies trifft für fast alle Arztdichter in Uniform zu, die unterschiedlichen Regimes dienen. Nur drei der hier vorgestellten Autoren, die Theologen Angelus Silesius, Francois Rabelais und Albert Schweitzer, ergriffen erst den Arztberuf, nachdem sie schon als Schriftsteller erfolgreich gewesen waren.