Der eigen-sinnige Mensch (Helmut Milz)

Rezension: Prof. Dr. Stefan Koelsch, Neurowissenschaftler und Musikforscher, Universität Bergen, Norwegen, Januar 2020

In seinem wichtigen, gut gelungenen Buch plädiert der Psychosomatiker und Psychotherapeut Helmut Milz für eine sensitive, ganzheitliche Medizin. Er beschreibt eindringlich und allgemein verständlich, wie Leib, Seele, Sinne und Lebenssituation zusammenhängen. Milz bezieht daraus bahnbrechende Erkenntnisse, die zum Grundwissen aller Mediziner gehören sollten.Mit vielen Aha-Erlebnissen überzeugt der Autor die Leser davon, dass Organe, Emotionen, Sinne und soziale Situation gemeinsam betrachtet werden müssen, um eine ärztliche Diagnose zu
stellen und ein angemessenes Therapiekonzept zu entwickeln.“

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Rezension: Prof. Gerd Folkers, Pharmazie, vormals Direktor des Colledium Helveticum der Universität Zürich/ZHDK, Januar 2020

Heute ist es die „molekulare Anatomie“, die uns über Krankheitsmechanismen Auskunft gibt. Helmut Milz legt eine etwas andere Anatomie vor. Auch er spricht über das Herz in physiologischer Perspektive. Da ist es eine Harvey’sche Pumpe. Das Herz hat beim Mediziner Helmut Milz jedoch mehrere Bedeutungen, und was folgt ist eine kleine Kulturgeschichte des Herzbegriffs bis in die Moderne. Bis zur Kulturkritik, die der „kardiologischen Rehabilitation“ weniger Interesse zumisst, einfach weil sich die entsprechenden Therapiennicht prominent publizieren lassen. Und Letzteres, die Publikation, ist die Währung der wissenschaftlichen Karriere. „Der eigensinnige Mensch“ ist ein wertvolles Buch, weil es hilft, einen Perspektivenwechselvorzunehmen, eine Übung, die zur eigenen Verortung eminent wichtig ist.

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Rezension: Prof. Giaco Schiesser, Zürcher Hochschule der Künste 17.6. 2019:

«Der Körper ist Mittelpunkt, Werkzeug, Ausdrucksmittel und Bühne des Lebens. Er verändert sichin, durch und mit diesem», schreibt der Autor in den einleitenden Worten zu seinem Buch «Dereigen-sinnige Mensch»,  mit dem Untertitel  «Körper, Leib und Seele im Wandel».

Grundlage für unser je individuelles Leben – ob gelebt oder nur erduldet – sind unsere fünf Sinne. Diese sind das Tor gleichermaßen zu den Mit-Menschen, wie zu eigenen Experimenten, Erfahrungen und Erkenntnisse. Durch die Sinne nehmen wir auf, in uns und um uns herum kreuchtund fleucht. Und stets bilden wir, bilden sich die Sinne – mal unbewusst, mal bewusst – um oderweiter. Diese Aus- und Weiterbildung der fünf Sinne ist, wie Marx schon 1844 hellsichtig bemerkte, nicht nur eine individuelle Arbeit, sondern «eine Arbeit der ganzen Weltgeschichte».
Nun handelt das Buch nicht nur von den fünf Sinnen oder genauer, wie es immer wieder betont: von den Systemen der einzelnen Sinne und deren komplexem Gesamtsystem bzw. dessenPlastizität oder funktionellen Veränderungsfähigkeit, sondern auch vom Eigen-Sinn der Menschen.

Am Eigen-Sinn – einen Begriff, den es nur in der deutschen Sprache gibt , und der etwa in der englischen Sprache als deutsches Lehnwort übernommen wurde (etwa in der Übersetzung von Hegels Werken oder in den Arbeiten von Judith Butler) – ist zweierlei interessant. Der Begriff hat seit dem Mittelalter vornehmlich eine schlechte Presse. Fürchtete die katholische Kirche einst Wollust und Hybris der Menschen, die eigensinnig sein wollten, und bekämpfte sie wegen ihrer menschlichen Anmaßung gegenüber Gott aufs Schärfste, hat sich die negative Konnotation im Alltag bis heutegehalten: ein eigensinniger Mensch gilt als stur, starr starrköpfig, als trotzig, unbelehrbar, auf sich bezogen.

Es gab aber immer auch eine subdominante, positive Tradition, welche etwa vom kürzesten Märchen der Gebrüder Grimm – «Das eigensinnige Kind» – über Alexander Kluges «Geschichte und Eigensinn»bis zu Foucaults «Ästhetik der Existenz» läuft, und die das Unabgegoltene, das Offene eines vor einem liegenden Leben in dem Begriff des Eigensinns stark machten. Zum zweiten, und auf einer ganz anderen Ebene, es liegen in dem Begriff Eigen-Sinn die Begriffe Sinn und Sinnlichkeit ganz nah beieinander. Die eigene Sinnlichkeit und der eigene Sinn, den man seinem Leben gibt, sind so aufs Innigste verschaltet.

Von allen drei Dingen handelt das Buch – es entfaltet ein eindrückliches Panorama derverschiedenen Sinne, aus Sicht der Alltagssprache, der wissenschaftlichen Entwicklung und ausSicht aktueller Problemstellungen, und es fördert und fordert die Eigen-Sinnigkeit für ein erfüllendes Leben, das gleichermaßen uns alle als Individuen wie auch die Gesellschaft als Ganzes im Auge hat.

In den 1950er Jahren, lange bevor die Begriffe Inter- oder Transdisziplinarität gebraucht oder gar en vogue waren, äußerte Hans Eisler, der deutsche Komponist: «Wer nur von Musik etwas versteht, versteht auch davon nichts».

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Prof. Dr. Gerd Glaeske, Universität Bremen – SOCIUM 1. Juni 2019

Früher Herz, heute Gehirn – vom Sinnes-Wandel der Menschen

Es ist ein erstaunliches Buch, das Helmut Milz, Facharzt für psychosomatische Medizin und Allgemeinmedizin, gerade unter dem Titel „Der Eigen-Sinnige Mensch – Körper, Geist und Seele im Wandel“ publiziert hat. Es geht dabei um nicht weniger als die Beantwortung der Frage, wie sich Erleben und Verstehen des menschlichen Körpers während der letzten Jahrhunderte bis heute verändert haben, wie sich die sinnlichen Erfahrungen von Tasten, Berühren, Hören oder Schmecken, die unser Verhalten geprägt haben, mehr und mehr im Rahmen der neurobiologischen Forschung zu messbaren elektrischen Impulsen und oftmals zu Erklärungen jenseits aller Sinnlichkeit geführt haben – ein Mikrogramm mehr oder weniger von einer Transmittersubstanz wie Serotonin in unserem Gehirn will auf diese Weise eine Depression erklären und damit therapeutische Interventionen mit Serotoninwiederaufnahmehemmern (SSRI) erklären.

Dabei wissen wir heute, dass bei depressiven Menschen noch nie ein Serotoninmangel nachgewiesen werden konnte, ein solcher Mangel darf in der Zwischenzeit als Märchen bezeichnet werden. So wichtig die Neurobiologie als wissenschaftliche Disziplin auch sein mag, so wichtig ist es gleichzeitig, die Sinne der Menschen nicht gering zu schätzen, sondern eine Verbindung zwischen gewachsenen Erfahrungen und aktuellen Erkenntnissen in der Medizin und ihrem Umgang mit Patientinnen und  Patienten herzustellen – eben nicht nur das Gehirn als Mittelpunkt unseres Körpers zu betrachten, sondern ebenso das Herz, sowohl im organischen wie im sinnlichen Zusammenhang.

Die Kapitel, die Herr Milz in seinem 339seitigen Buch aufgreift, haben mit unseren wichtigsten „eigenen Sinnen“ bzw. den Funktionsbereichen unseres Körpers zu tun. Es geht um das Berühren („Die Welt ertasten und empfinden), um das Schmecken, um das Riechen („Immer der Nase nach“), um das Hören und das Sehen. Die weiteren Kapitel handeln mit Herzen, vom Atmen, von unserem Nervengeflecht, vom Bauch und Baugefühl, von den Knochen („Dynamischer Halt und lebendiges Gewebe“), von der Muskelkraft und dem Muskelsinn („Bewegung und Gespür“) und schließlich vom inneren Fluss des Lebens („Was in uns fließt“). In jedem der etwa 20 – 30seitigen Kapitel wird erläutert, was es mit den jeweiligen Sinnen, auch in einer kurzen historischen Betrachtung auf sich und wie sich diese ehemals z.T. archaischen Sinneserfahrungen hin zu unserer Zeit, auch im Blick der Wissenschaft, entwickelt haben: Im ersten Kapitel heißt dann z.B. eine Zwischenüberschrift: „Die Hand – empfangen, begreifen, handeln“, unterlegt mit dem Zitat des Physikers Isaac Newton, der meinte: „Mangels anderer Beweise würde mich der Daumen vom Dasein Gottes überzeugen“, weil der „Pinzettengriff“ (Daumen gegen die Kuppen anderer Finger) als ein besonderer Entwicklungssprung in der Menschwerdung gilt. Und es geht dann auch über ärztliche und therapeutische Berührungen  hin zum Händedruck als Kommunikationsmittel – wie wissen alle, wie wir Menschen gerade durch den ersten Händedruck (lasch, fest, „Schraubstock“) auch mit unseren Sinnen einordnen.

Bei Schmecken geht es z.B. um die Metaphern des Geschmacks – süß auch als Beschreibung von Wohlgeschmack und Freude, auch Liebe und sogar Rache können mit dem Begriff „süß“ in Verbindung gebracht werden, bei „salzig“ wird der Zusammenhang in der Bergpredigt angesprochen („Ihr seid das Salz der Erde“), aber auch die zusätzliche Gratifikation römischer Legionäre, die zu ihrem Sold zusätzlich Salt als Lohn erhielten, daher der Begriff „Salär“ (lat. Salarium).

Das Hören hat sich gerade auch in der Psychotherapie seinen wichtigen Platz erhalten, technische Apparaturen stehen nicht bereit, um die persönlichen Gespräche mit den Klienten zu objektivieren. Daher auch die Supervision, die ebenfalls mit Sprechen und Hören bei einer/m erfahrenen Kolleg*in zu tun haben.

In einem Kapitel „der Orte“ von Sinnen geht es um die medikamentösen Lösungsversuche zur Verbesserung des Nervenkostüms. Dabei werden Heroin, seinerzeit noch eine Hustenmittel der Firma Bayer, Morphin und Benzodiazepine wie Valium („Mother’s little Helper“) ebenso erwähnt Coca-Cola, das in seinen ersten Zeiten tatsächlich einen geringen Anteil von Kokain enthielt. Nachdem aber ein Coca-Cola bedingter Anstieg der Vergewaltigung von Frauen und vermehrte allgemeine Gewalt bekannt wurden, musste das Kokain aus den Getränken entfernt werden.

Die Entwicklung im Umgang mit unseren Sinnen und Sinneserfahrungen wird von Helmut Milz durchaus mit kritischer Distanz begleitet. Einerseits wird es kaum verhinderbar sein, dass sich die Entwicklung einer computergestützten, immer tiefer in das menschliche Gehirn eindringenden Entschlüsselungswissenschaft aufhalten lässt. Anderseits lassen sich dadurch aber intuitiver Spürsinn, Bauchgefühl, Empfindungen der Herzens und vor allem Gemeinsinn der Menschen mit- und untereinander nicht verdrängen, weil sie sich einer objektiven Messbarkeit entziehen. Ein „gelingendes Leben“ ist auch im Spiegel dieser Sinnesempfindungen zu erklären und zu entwickeln, messbare elektrische Impulse werden sind in diesen Fällen weder „sinnstiftend“ noch erklärend. Dies sollte auch bei den digitalen Selbstoptimierungsprogrammen bedacht werden, da hinter all den anfallenden Daten Interessen zu vermuten sind, die entweder für  Geschäftemacherei oder technische Kontrolle genutzt werden.

Das Buch von Helmut Milz ist ein ausgesprochen lesenswertes und gelungenes Manifest zur Bedeutung eines wohlverstandenen „Eigensinns“, der für uns Menschen auch eine unverwechselbare Individualität in unserem (Er-)Leben bedeutet. Die einzelnen Kapitel zeigen aber auch die Veränderbarkeit der menschlichen Sinne im Laufe der Zeit, die durch kulturelle, gesellschaftliche und wissenschaftliche Einflüsse zustande kommen. Pflegen wir also die Kommunikation und die Wahrnehmung von Körper und Sinnen, um Herz und Gehirn zu einer gemeinsamen Mitte unserer Persönlichkeit zu machen oder zu stärken. Das – übrigens auch noch optisch schön gestaltete – Buch von Helmut hilft uns zu erkennen, warum dies ein lohnender Weg ist. Ich habe gerne in diesem Buch gelesen und möchte es allen ans Herz legen, die mit wachen Sinnen ihr Leben gestalten wollen.

Helmut Milz (2019) Der Eigen-Sinnige Mensch. Körper, Leib & Seele im Wandel. Edition Zeitblende im AT Verlag. Aarau und München. 38,00 Euro

Siehe auch Veranstaltung mit Podium

Helmut Milz
geboren 1949, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie für Allgemeinmedizin; Studien der Körpertherapie; Honorarprofessor für Public Health;
ehemaliger Berater für Gesundheitsförderung bei der WHO. Er lebt in Marquartstein in Oberbayern.

Der Mediziner Helmut Milz

In seinem Buch „Der eigen-sinnige Mensch“ unternimmt der Mediziner und Publizist Helmut Milz eine ungewöhnliche Reise durch die Sinnenwelt des Körpers. Er erzählt vom Leib und unseren Körperbildern in den mannigfaltigen Wechselwirkungen mit Kultur, Sprache, Umwelt, Geschichte, Heilkunde, Kunst und Wissenschaft.

Im Gespräch mit Michael Langer Deutschlandfunk

6 Kommentare zu „Der eigen-sinnige Mensch (Helmut Milz)

  1. Eigen-Sinn bei der Beschäftigung mit Körper und Sinnen finde ich sehr angebracht in Zeiten von massiven medienvermittelten Normungs- und Optimierungsansprüchen bezüglich der Physis – ausschließlich der Physis. Armbanduhren kontrollieren beständig Puls, Atmung, Blutdruck… den Krankenkassen gefällt es, ihr Träger erliegt einer Fixierung der Aufmerksamkeit auf den Körper.

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