Signal
Umstellt von der Meute
Abgasschnaubender Wagen
Ergriff ich den Arm des einen,
der rechts von mir ging,
Nicht den anderen,
Dessen Ring ich trug.
Mascha Kaléko (1907-1975): Mein Lied geht weiter, Hundert Gedichte. DTV 2007
Signal
Umstellt von der Meute
Abgasschnaubender Wagen
Ergriff ich den Arm des einen,
der rechts von mir ging,
Nicht den anderen,
Dessen Ring ich trug.
Mascha Kaléko (1907-1975): Mein Lied geht weiter, Hundert Gedichte. DTV 2007
Justinus Kerner, der schwäbische Arztdichter, der ebenso unerschrocken wie erfolgreich mit dem stärksten aller natürlichen Gifte (Botulinumtoxin) experimentiert hatte, geriet eines Tages in panische Angst und wollte sogar das Land verlassen, als er erfuhr, welche Gefahr von einer einzigen seiner klingenden Metaphern ausgegangen war (8. Kapitel). Er hatte mit einem trefflichen Vers, wenn auch „etwas kühn“, wie er bekannte, seine Zeitgenossen bei Hofe als „goldbordierte Knechte“ karikiert. Fortan musste er wie viele Dichter befürchten – und das war wohl noch nie ein reiner Wahn, – von staatlichen Stellen überwacht zu werden. Besonders bemerkenswert ist, dass seine rege Forschungsarbeit auch zur Ablenkung der Geheimpolizei diente, weil medizinische Schriften den Argwohn der Zensoren weniger erregten als die „gefährliche Poesie“.
Justinus Kerner hatte über die Funktion einzelner Teile des Gehörs (1808) promoviert und als erster empirischer Forscher die Ursache einer bakteriellen Lebensmittelvergiftung, des Botulismus beschrieben: Nach seiner Beobachtung führte ein „Fettgift“ in verdorbenen Würsten häufig zu Doppelsehen, Atemnot und „Herzlähmung“. Das bei Botulismus wirksame Neurotoxin wird heute stark verdünnt in die faltige Gesichtshaut, in Augenlider und spastische Muskeln gespritzt, kann aber dann auch wie der Botulismus nach einer Lebensmittelvergiftung zu Lähmungen führen. Durch das Toxin von clostridium botulinum wird die Acetylcholin-Ausschüttung an der neuromuskulären Endplatte blockiert. Botulinumtoxin ist das stärkste natürliche Gift. Immens ist das Risiko des Einsatzes als B-Waffe (Bioterrorismus): Ein Gramm des Gifts wäre für 10 Millionen Menschen tödlich.
Nach wie vor ist das Risiko für Autorinnen und Autoren nicht gering, aufgrund eines politischen Protests oder auch nur wegen eines satirischen Gedichts staatlich verfolgt zu werden. Eine rigoros praktizierte Kulturpolitik reduziert den öffentlichen Diskurs auf den Kampf der Scherheitskräfte gegen Freiheitskräfte und steht damit für die Kontinuität historischer Konflikte: Widerstandskämpfer rebellieren gegen Willkürherrschaft und machtbewusste Insider verfolgen intellektuelle Outsider:
• Im Königreich Saudi-Arabien wurde ein Todesurteil wegen „Blasphemie“ über den Lyriker Ashraf Fayadh verhängt. Er hatte in einem Gedichtband auf „Propheten im Ruhestand“ („Prophet have retired“) angespielt.
• In der Bundesrepublik Deutschland galt eine Majestätsbeleidigung – noch 100 Jahre nach dem Ende der Monarchie – als Verstoß gegen die „Unverletzlichkeit“ des Staatsoberhaupts.
Gegen den Majestätsbeleidigungsparagraphen verstießen sowohl der Dichter Frank Wedekind als auch der Satiriker Jan Böhmermann, als sie mit ihren Schmähgedichten besonders auf Intelligenzmängel des deutschen Kaisers bzw. des türkischen Präsidenten aufmerksam machen wollten.25 Dies blieb nicht ohne Folgen:
• Im Jahr 1899 verfügte der deutsche Kaiser, dass Wedekind als Autor des Simplicissimus vor Gericht gestellt und zu sechs Monaten Festungshaft verurteilt wurde.
s. auch Blog Autorinnen in der Medizin
An der Wende zum 20. Jahrhundert waren es vor allem zwei avantgardistische Dramatiker und Erzähler, die als erfahrene Ärzte zwischen Melancholie und Hoffnung schwankend, ironische und satirische Texte verfassten: Arthur Schnitzler und Anton Tschechow.
Schnitzlers Novelle Lieutenant Gustl (1900) ist darauf angelegt, die herrschende Duellpraxis als Inbegriff der Doppelmoral und menschlicher Schwäche zu entlarven. Schnitzler arbeitete als Assistenzarzt – wie schon einige Jahre vor ihm Freud – am Wiener Allgemeinen Krankenhaus in der Neuroanatomie und Psychiatrie.
In der Novelle Fräulein Else (1924) schilderte er den traurigen Monolog der 19-jährigen Protagonistin. Dieser innere Monolog war in zweifacher Hinsicht neu: Zum einen konnte man erstmals unmittelbar an Gedanken und Grübeleien teilnehmen, die in dieser Form kaum spontan ausgesprochen würden. Zum andern wurden freisinnige weibliche Vorstellungen preisgegeben, die eine Grundregel der herrschenden Doppelmoral verletzten: Man erfuhr etwas, „worüber man nicht spricht“, beispielsweise eine exhibitionistische Neigung der jungen Frau.
s. auch Blog Literatur ist Widerstand
Arztdichter, Deutschland 17.–19. Jahrhundert
Paul Fleming (1609–1640)
Johannes Scheffler (1624–1677)
Johann Christian Günther (1695–1723)
Johann Friedrich Albrecht (1752–1814)
Friedrich Schiller (1759–1805)
Justinus Kerner (1786–1862)
Heinrich Hoffmann (1809–1894)
Georg Büchner (1813–1837)
Während des Dreißigjährigen Krieges lebte und starb der Arzt Paul Fleming, ein selbstbewusster Poet, der hieb- und stichfeste Verse schmiedete, die auf seinen Wunsch auch für seine eigene Grabschrift in Stein zu meißeln waren:
Man wird mich nennen hören/Biß daß die letzte Glut diß alles wird verstören.
20-jährig wurde Paul Fleming zum Poeta laureatus gekrönt. Kurz nachdem er die medizinische Doktorwürde (De Lue veneria) erworben hatte und von einer seiner zahlreichen Schiffsreisen heimgekehrt war, starb er 30jährig an einer von ihm selbst diagnostizierten Lungenentzündung.
Nichts fehlt dem Lyriker und Liebhaber zum kurzen irdischen Glück, wenn doch die Angebetete ihn nur einmal erhören wollte; doch gesetzt den Fall, sie tut’s, dann darf er so gut wie nie ohne göttliche Zustimmung allein mit ihr sein; denn der Liebesgott der Oden und Sonette ist allgegenwärtig: Blind verteilt Amor seine Gunst zwischen den begehrten Mädchen und begehrlichen Männern. Wenn Amor aber blind ist und die Schöne sich taub stellt, was bleibt dann einem braven Dichter des 17. Jahrhunderts – wie Paul Fleming – anderes übrig, als zu klagen und der Dame mit göttlicher Vergeltung zu drohen?
Ich lauff’/ ich ruff’/ ich bitt’/ ich weine.
Sie weicht/ und schweigt/ und stellt sich taub.
Sie leugnets und ists doch alleine/
die mir mein Hertze nimmt in Raub
Ach Freundin/ scheu der Götter-rache.
Daß du dir nicht zu sehr gefällst/
Daß Amor nicht dereinst dir lache/
Den du itzt höhnst/ und spöttlich hältst.
Video: https://www.youtube.com/watch?v=KLj2MaBNa8Y?ecver=2gkeit
s. auch den Blog Lyrik und Leichtigkeit
https://www.klinikum.uni-heidelberg.de/fileadmin/zpm/psychatrie/fuchs/Literatur/Interview_Evolve.pdf
Dies ist kein Gedicht
Lieber ein Rezept für ein Fleisch- oder Fischgericht?
Lieber ein Börsenbericht?
Oder doch ein Gedicht?
Oder nicht?
Hier nur ein Vers:
A thing of beauty is a joy for ever
John Keats
Details einblenden
Young Women at a Window (W. C. Williams)
She sits with Tears on
her cheek her cheek on
her hand the child
in her lap his nose
pressed to the glass
Junge Frau am Fenster (Übersetzer H. M. Enzensberger)
Sie sitzt mit Tränen auf
der Wange die Wange auf
der Hand das Kind
auf dem Schoß seine Nase
gegen die Scheibe gepresst
Der Abdruck deiner Schläfe
am Fenster des Spätzugs
der sich auflöst
im Himmel
Jahre später fällt Schnee
und eine Wolke tupft
ihr Selbstbildnis
bis auf Höhe
dieses Augenblicks
Jedes Gedicht ist mehr wert als ein Börsenbericht.
Ein Beispiel:
„Vom Holocaust haben wir nichts gewusst“. Die Nachkriegs-Ausrede vieler Deutscher: eine Lebenslüge. Das weist der US-Historiker Robert Gellately in seiner neuen Studie „Backing Hitler“ nach.
„Es gibt einen Ort, der in Deutschland sofort Kontroversen auslöst, sofort Ablehnung oder Schuldgefühle weckt, einen Ort, von dem man annehmen könnte, dass alle ihn kennen: Auschwitz. Doch jeder fünfte Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren hat davon noch nichts gehört. Das ist der eine Teil der Wirklichkeit. Der andere: Viele von denjenigen, die mit Sicherheit etwas über die Vernichtung der rund sechs Millionen Juden und über den tödlichen Terror gegen andere Minderheiten wussten, behaupten bis heute, davon damals nichts gehört zu haben. Auschwitz war weit weg, irgendwo im Osten. Die Wirklichkeit ist aber auch hier noch eine andere. Die meisten Menschen wurden nicht in Auschwitz, sondern in einem der vielen anderen Lager umgebracht. Tausende davon gab es auch in Deutschland. Der Mord geschah also auch in der Nachbarschaft.“ (Volker Steinhoff) s.a. Das Kontinuum der NS-Medizin
Die Denunziation von Blutsverwandten, wie im Fall des Arztdichters da Silva, gehörte keineswegs zu den historischen Einzelfällen mit tödlichem Ausgang: 300 Jahre nach dem Autodafé von Lima, als mit dem II. Weltkrieg der NS-Völkermord begann, wurden immer mehr widerständige Menschen von ihren nächsten Angehörigen an die Gestapo verraten, um inhaftiert oder hingerichtet zu werden. Allerdings fiel auch die Gestapo nicht auf jede Anzeige eines denunziationswilligen Ehepartners herein.
https://daserste.ndr.de/panorama/aktuell/Die-Luege-von-ahnungslosen-Deutschen,panorama8294.html
http://www.geschwister-scholl-preis.de/preistraeger_2010-2019/2018/index.php
Die Erforschung der Verbrechen des Nationalsozialismus hat der Historiker Götz Aly mit bedeutenden Büchern vorangetrieben, darunter ‚Vordenker der Vernichtung‘ (1991, mit Susanne Heim), ‚Hitlers Volksstaat‘ (2005) und ‚Warum die Deutschen, warum die Juden?‘ (2011). In seinem jüngsten Buch ‚Europa gegen die Juden. 1880-1945‘ zieht er eine Art von Summe – indem er eine markante These zu den Möglichkeitsbedingungen des Holocaust umfassend belegt und begründet, mit ganz Europa im Blick. Der Antisemitismus war demnach nicht die Sache einer Minderheit von irrationalem Hass getriebener Fanatiker. Für die Verdrängung der Juden aus dem bürgerlichen Leben gab es rationale Gründe – rational im Sinne von: erklärbar, aus den materiellen Interessen derjenigen, die von der Beseitigung der Konkurrenz profitierten. Mit verblüffendem Effekt zitiert Aly aus der prophetischen Geschichtsschreibung des bayerischen Finanzbeamten Siegfried Lichtenstaedter, der 1942 in Theresienstadt ermordet wurde. Es war möglich, den Holocaust vorauszusagen. Dann hätte er auch verhindert werden können. Und dann sollte es wenigstens möglich sein, ihn zu erklären.[…]
»Schreiben bedeutet Spielen mit den Murmeln der Fantasie.« (Bettina Schott)
Ich, meine Gedichte und Italien
schreiben als antwort aufs schweigen
Menschen und ihre Technologien im Einklang