Oxymora

  1. Der Titel eines der letzten Brautgedichte des Arztes Johann Christian Günther lautet: Als er Phillis einen Ring mit einem Totenkopf überreichte.

Bei aller Liebe – die doppelte Botschaft des Geschenks eignete sich weder als Brautwerbung noch als günstige Eheprognose. Glücklicherweise flocht der Autor eine Interpretationshilfe in dieses Gedicht ein, um der erschrockenen Pfarrerstochter Phillis das paradoxe ästhetische Zusammenspiel von „Eis und Flammen“, „Lieb und Tod“ als poetische Contradictio in adiecto zu verdeutlichen, vor allem aber, um sie von ihrerAngst vor der Ehe zu kurieren


Wie schickt sich aber Eis und Flammen?
Wie reimt sich Lieb und Tod zusammen?
Es schickt und reimt sich gar zu schön,
Denn beide sind von gleicher Stärke
Und spielen ihre Wunderwerke
Mit allen, die auf Erden gehn.


Eine Ehe sollte indessen nicht zustande kommen, weil der Vater des Dichters sich allen Heiratsplänen widersetzte. So endete die Liebesgeschichte in einer Partnerschaft, die ein Dichter der Moderne als sachliche Romance bezeichnet. Vgl. Erich Kästners Sachliche Romance (1929) mit dem Oxymoron im Titel, ein Beispiel „ungelebten Lebens“.

2. Erich Kästner
Sachliche Romanze

Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut)
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.
Sie waren traurig, betrugen sich heiter,
versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wussten nicht weiter.
Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.
Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
Er sagte, es wäre schon Viertel nach vier
und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.
Nebenan übte ein Mensch Klavier.
Sie gingen ins kleinste Café am Ort
und rührten in ihren Tassen.
Am Abend saßen sie immer noch dort.
Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.

3. Einen   vergleichbaren   emotionalen   Akzent   setzt   Else   Lasker- 
Schülers Gedicht Frühling mit dem Vokalwechsel vom Leben zum Lieben 

Ich sehnte mich nach Mutterlieb’ 
Und Vaterwort und Frühlingsspielen,  
Den Fluch, der mich durch’s Leben trieb,  
Begann ich, da er bei mir blieb, 
wie einen reuen Feind zu lieben.

Die  Contradictio  in  adiecto  vom  „treuen  Feind“  ist  als  poeti-
sches  Mittel  geeignet,  Ambivalenz  auszudrücken,  wird  aber  ge-
rade deshalb leicht verkannt. Dieses unbewusste „Versehen“ er-
füllt  ein  Vorurteil,  da  beim  Lesen  an  dieser  Stelle  ein  „treuer
Freund“ erwartet wird. 

4. Mit dem Grußwort aus dem Bundeskanzlerarmt wurde Georg Büchner zum 200. Geburtstag ein „klarer und durchdringender Verstand“ attestiert, der bereits seinen Lehrern aufgefallen sei – und noch mehr:

„Mit dieser Gabe und jugendlichem Ungestüm wurde er der produktive Rebell seiner Zeit, scharfzüngig und leidenschaftlich.“

Die Formulierung „der produktive Rebell“ konnte allerdings als Contradictio in adiecto – wie ein absichtliches Versehen – verstanden werden, ein feierliches Oxymoron, das eine gewisse Befangenheit des regierungsamtlichen Laudators verriet.
In der Tat war schon früher einmal dessen Voreingenommenheit gegenüber scharfzüngigen Schriftstellern aufgefallen, hatte er doch politische Verse des streitbaren Lyrikers und Büchner-Preisträgers Erich Fried als so gefährlich eingeschätzt, dass er sich im Parlament zu der Äußerung genötigt sah, diese Gedichte würde er „lieber verbrannt als im Unterricht verwendet sehen“. (Die Welt vom 22.11.2006 berichtete: Im „deutschen Herbst“ 1977 wollte Bernd Neumann Gedichte von Erich Fried lieber verbrannt als im Unterricht verwendet sehen.)

    DOI: 10.1007/978-3-030-02723-0_11

5. Peter Trower; Jason Jones: REBT with Diverse Client Problems and Populations (2019):

Until comparatively recently, the idea of using REBT or any kind of cognitive psychotherapy for schizophrenia sounded like an oxymoron. The prevailing view in psychiatry and widely in the mental health field, was—and sometimes in routine practice still is—that psychological therapy for schizophrenia was inappropriate, even iatrogenic, in that there was a risk that it might cause as much harm as benefit.

Bibliographic information Stanford Unviversity

Contents

Creators/Contributors

SubjectLiterature, Modern > Psychological aspects.Literature, Modern > History and criticism.Medicine, Psychosomatic > Research.Psychoanalysis and literature.Schiller, Friedrich, 1759-1805 > Criticism and interpretation.Büchner, Georg, 1813-1837 > Criticism and interpretation.Schnitzler, Arthur, 1862-1931 > Criticism and interpretation.

Author/Creator Masuhr, Karl F.,

Contents

  • Prolog : Wie gefährlich ist Poesie?
  • Ethos und Widerstand
  • Dichtung ohne Grenzen
  • Rebellion gegen die Vergänglichkeit : Schreibende Ärzte und Ärztinnen ohne Grenzen
  • Reim und Ruhm : Erwartungen an ein Dichterleben : Biographik und biographische Medizin
  • Widerstand und Wissenschaft : Friedrich Schillers Vita, seine Dramen und medizinischen Schriften
  • Virtuelle Drehbühne : Georg Büchners Revolution und die Stimmen des Franz Woyzeck
  • Psyche und Poesie : Krisen und Krankheiten : Arthur Schnitzler und Anton Tschechow Sterben ist schlafen
  • Eros, Poesie und Traum : Liebeslyrik und Traumnovelle
  • Affekt und Effekt : Vokalwechsel und Verwandlungen
  • Lied und Leid : der Dichterkreis, das Kernerhaus und die Geister
  • Paradoxien : Totstellversuche : Menschen wie tot oder untot : Playing dead
  • Doppelleben : die Lyriker William C. Williams und Gottfried Benn
  • Wunde und Wende : Gottfried Benn und Michail Bulgakow
  • Arzttum, Dichtertum, Kämpfertum : Sanitätsoffiziere und Dichter, Dichterinnen und Ärztinnen an der Front
  • Geist der Generationen
  • Nervenheilkunde und Funktionswandel / Mitchell Döblin, Benn, Wolf, Wolff, Kipphardt, Sacks, Augustin, Antunes, Goetz
  • Arztkinder und Arztdichter : Cervantes, Günther, Schiller, Büchner, Flaubert, Schnitzler, Proust, Wilde, Aichinger u.a
  • Rivalität in der Familie : Verrat von Verwandten : Vatermord : Grossmutterrollen : das NS-Kontinuum
  • Verletzlichkeit : „Das magische Gefühl, unverwundbar zu sein“ : die neuen Rebellinnen und Rebellen
  • Epilog : „Abenteuer in zwei Welten“
  • Anhang : Literatur
  • Abbildungsnachweis
  • Register
  • Dank.

Subjects

Bibliographic information

Publication date 2018 Copyright date 2018 Title Variation Psychosomatische Aspekte ihres Wirkens ISBN 9783826063008 (pbk.) 3826063007 (pbk.)

Reim und Ruhm

Ich soll reimen und nicht wissen,
Was sich diesmal reimen soll.
Fülle nur mit deinen Küssen
Die gesuchte Strophe voll.

Daß der Strahl von deinem Glanze,
Welcher dich vor andern ziert,
Auch den Ruhm von meinem Kranze
Mit sich auf die Nachwelt führt.
JOHANN CHRISTIAN GÜNTHER

Ursprünglich war Ruhm nicht viel mehr als ein „Geschrei, mit dem man sich brüstete“; später verstand man darunter ein „weitreichendes hohes Ansehen“. Anders als der unterschiedlich verteilte Dichterruhm könnte ein Vergleich der Biographien – unter Berücksichtigung wechselnder Zeitumstände – dem Wirken der Autorinnen und Autoren eher gerecht werden, wenn sich mit ihrer individuellen, im Lauf der Jahrhunderte steigenden Lebenserwartung die Frage verknüpfen lässt, was sie selbst vom Leben erwarteten; ob sie zum Beispiel schon während des Studiums – wie Friedrich Schiller – erste Texte verfasst hatten und den medizinischen Beruf später zugunsten der Dichtkunst aufgaben oder beispielsweise erst nach abgeschlossenem Theologiestudium – wie Francois Rabelais, Johannes Scheffler und Albert Schweitzer – zur ärztlichen Tätigkeit motiviert worden waren.

Aus einigen Selbstzeugnissen der Autoren geht hervor, dass die Existenz eines Mediziners ernsthaft bedroht sein konnte, sobald er sich der Dichtkunst verschrieb. Ein Beispiel dafür ist die Vita des Lyrikers Johann Christian Günther. Der Arztsohn wurde zum Poeta laureatus gekrönt, scheiterte aber sowohl als Bewerber um die Stelle eines Hofdichters in Sachsen als auch bei allen Promotionsversuchen zum Doktor der Medizin; kein Wunder: Er verfasste mindestens 40 000 Verse, darunter den deutschen Liedtext für
Gaudeamus igitur: Brüder lasst uns lustig sein.
Er feierte und trank viel, saß auch im Schuldturm. Erst drei Jahre vor seinem Tod konnte er eine Arztpraxis eröffnen.

Tabelle 1 Arztdichter, Deutschland 17.–19. Jahrhundert

Paul Fleming (1609–1640)
Johannes Scheffler (1624–1677)
Johann Christian Günther (1695–1723)
Friedrich Schiller (1759–1805)
Justinus Kerner (1786–1862)
Heinrich Hoffmann (1809–1894)
Georg Büchner (1813–1837)

In der Tabelle 1 sind Arzt-Dichter des 17.- 19. Jahrhunderts aufgeführt, deren chronologische Reihenfolge sich ändert, wenn die Lebenszeit als Parameter eingesetzt wird:

Tabelle 2 Arztdichter, Deutschland Lebensjahre, aufsteigend, 17.–19. Jahrhundert, wahrscheinliche Todesursachen:

Georg Büchner 24. Lj. Typhus
Johann Christian Günther 28. Lj. Tuberkulose
Paul Fleming 31. Lj. Pneumonie
Friedrich Schiller 46. Lj. Tuberkulose
Johannes Scheffler 53. Lj. Tuberkulose
Justinus Kerner 76. Lj. Grippe
Heinrich Hoffmann 86. Lj. Schlaganfall

Johann Christian Günther

Die Prognose einer Arztdichter-Karriere war immer ungewiss. Wer hätte beispielsweise vorhersagen können, dass ein Poet, der sich als Medizinstudent im Sturm und Drang des späten 18. Jahrhunderts zunächst einmal auf das Schreiben von Kriminalliteratur verlegte – und bei der Doktorprüfung durchfiel –, jener Militärarzt, der sich bei den Vorgesetzten wegen unerlaubter Entfernung von der Truppe – und zu allem Übel bei seinen Patienten wegen Überdosierung von Brechmitteln unbeliebt gemacht hatte – wer hätte also gedacht, dass dieser Mediziner eines Tages zum Hochschulprofessor und Hofrat ernannt sowie in den Adelsstand erhoben – und wer hätte geahnt, dass dieser schließlich an der Schwindsucht zugrunde gehende Mann, der anno 1805 unter falschem Namen und ohne Kopf bestattet wurde, 100 Jahre nach seinem Tod als deutscher Nationaldichter gefeiert werden würde? Sein bester Freund, ein weiterer klassischer Dichter, hatte an der Totenfeier nicht teilnehmen können, aber später mit einem Gedicht Bei der Betrachtung von Schillers Schädel dieses kongenialen Kopfes gedacht. Der Verewigte konnte freilich schon zu Lebzeiten einen Vorgeschmack von der Verehrung durch die Nachwelt bekommen haben: Fast 15 Jahre vor seinem Tod verbreitete sich überall in Europa das Gerücht von seinem frühen Ableben, so dass er als einer der wenigen Sterblichen erleben durfte, wie seine Bewunderer um ihn trauerten. (Aus „Ärzte, Dichter und Rebellen“, 2. Kapitel: Reim und Ruhm. Erwartungen an ein Dichterleben. Biographik und biographische Medizin. Würzburg 2018, S. 31-44.

DR. MUKWEGES REDE über Gewalt und Frieden

Der kongolesische Arzt und Friendesnobelpreiser (2018), Denis Mukwege, beschreibt in Sokratischer Manier den Reichtum an Bodenschätzen des Landes und die Armut seiner Einwohner, die Macht der Oligarchen und die Ohnmacht der Minenarbeiter. Seine in französischer Sprache gehaltene Rede vom Januar 2019 erreicht viele Millionen Menschen im Internet.

Dieses Bild hat ein leeres alt-Attribut; sein Dateiname ist mukwege.jpg.
Denis Mukwege

Der Beifall des Publikums setzt ein, sobald er aus persönlicher und ärztlicher Sicht die größten Widersprüche erhellt. Er blickt auf 20 Jahre seiner Tätigkeit als Frauenarzt zurück und bezieht sich vor dem Hintergrund der in dieser Zeit herrschenden Demütigung des kongolesischen Volkes, der Morde und Mißhandlungen, besonders auf die brutale Vergewaltigung von Frauen und Kindern. Doktor Mukwege verweist auch auf die unmenschlichen Bedingungen der Kinderarbeit, mit der die für die Geräte der Informationstechnologie wichtigen Mineralien  gefördert werden und kommt zu dem Schluß, dass es angesichts der modernen Kommunikationsmöglichkeiten nicht mehr möglich sei, dies alles „wissentlich zu ignorieren“.

Fünf Schwerpunkte seiner dialektischen Rede sollen hier wiedergegeben werden:

1. Reichtum ist Ursache von Krieg, Gewalt und Armut
2. Unmenschliche Arbeitsbedingungen
3. Tragödie nicht „wissentlich ignorieren“
4. Verbrechen mit Wissen der Völkergemeinschaft
5. Ich fordere die Welt auf, Zeuge zu sein


1.0 Reichtum ist Ursache von Krieg, Gewalt und Armut

1.1 Mein Name ist Denis Mukwege.Ich komme aus einem der reichsten Länder unseres Planeten.

1.2 Dennoch gehören die Menschen meines Landes zu den Ärmsten der Welt.

1.3 Die traurige Wahrheit ist, dass der Reichtum unserer Bodenschätze, Gold, Coltan, Kobalt und andere Mineralien die Grundursache für Krieg, extreme Gewalt und erbärmliche Armut ist.

2.0 Unmenschliche Arbeitsbedingungen

2.1 Wir lieben schöne Autos, Schmuck und Geräte.Ich habe selbst ein Smartphone.

2.2 Diese Dinge enthalten Mineralien, die in unserem Lande gefunden werden.

2.3 Abgebaut unter unmenschlichen Bedingungen von Kindern, die Opfer von Einschüchterung und sexueller Gewalt sind.

3.0 Tragödie nicht „wissentlich ignorieren“

3.1 Wenn Sie ihr Elektromobil fahren, ihr Smartphone benutzen oder ihren Schmuck bewundern, nehmen Sie sich eine Minute Zeit, über die Herstellungsbedingungen dieser Objekte nachzudenken.

3.2 Das Wenigste, was wir als Konsumenten tun können ist, darauf zu bestehen, dass diese Produkte unter menschenwürdigen Bedingungen hergestellt werden.

3.3 Diese Tragödie wissentlich zu ignorieren macht uns mitschuldig. Es sind nicht nur die Gewalttäter, die verantwortlich sind für die Verbrechen, es sind auch diejenigen, die sich entscheiden, wegzuschauen

4.0 Verbrechen mit Wissen der Völkergemeinschaft

4. 1 Mein Land wird sytematisch ausgeplündert von Menschen, die sich unsere Anführer nennen. Geplündert für ihre Macht, geplündert für ihren Wohlstand und Ruhm. Ausgeraubt auf Kosten von unschuldigen Männern, Millionen Frauen und Kindern, gefangen in extremer Armut. Während die Profite aus dem Erlös der Mineralien in die Taschen der Oligarchen fließen.

4. 2 Zwanzig Jahre lang habe ich jetzt Tag für Tag im Panzi-Spital die Folgen der Misswirtschaft meines Landes gesehen. Säuglinge, Mädchen, junge Frauen, Mütter, Großmütter, auch Männer und Jungen werden auf grausame Weise vergewaltigt, oft öffentlich und kollektiv, zum Beispiel durch Einbringen von glühendheißem Plastik oder scharfen Objekten in ihre Genitalien.

4. 3 Das kongolesische Volk wurde gedemütigt, misshandelt, niedergemetzelt in den letzten beiden Jahrzehnten, auch mit Wissen der Völkergemeinschaft.

5. 0 Ich fordere die Welt auf, Zeuge zu sein

5. 1 Heute, dank des Zugangs zu den besten Informations- und Kommunikationstechniken, die wir jemals hatten, kann niemand sagen: Ich habe nichts davon gewusst.

5. 2 Mit diesem Friedensnobelpreis fordere ich die Welt auf, Zeuge zu sein und bitte Sie mitzuhelfen, diesem Leid, das die Menschheit beschämt, ein Ende zu setzen.

5. 3 Die Menschen meines Landes brauchen dringend Frieden.

In der Mitte der Gesellschaft angekommen?

Norbert Frei

„Die Autoren befürchten, viele Positionen  der „Neuen Rechten“ seien in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Dafür liefern sie zahlreiche Belege. Allgemeiner beschreiben sie das NS-Kontinuum mit dem Satz von der „Vergangenheit, die nicht vergeht“. Auch die so genannte konservative Revolution ist danach keineswegs die brandneue Idee eines christlich-sozialen Politikers.

Die Geschichte wiederholt sich nicht, sie verändert sich kontinuierlich, aber es scheint doch ein konservatives Kontinuum zu existieren, das schon deshalb von Dauer ist, weil es eben seinen Sinn und Zweck darin sieht, den Status quo zu konservieren. Dieser Zirkelschluß spricht nicht für eine intellektuelle Hochleistung in der konservativen Politik. Doch hatten die Deutschen nicht allzu lange ignoriert, dass es auch Rechtsintellektuelle gibt? In konservativen Kreisen wurde kolportiert, dass die 68er mehr zerstört hätten als der Nationalsozalismus.

Die rechten Parteigänger an den Universitäten hätten aber von den fortschrittlich argumentieren Linken gelernt. Alles weitere sei dem „Mobilisierungsneid“ einiger rechtsintellektueller Professoren zuzuschreiben, unter denen sich heute auch ein Parteivorsitzender befinde, welcher sich freilich nicht der Sprache eines Gentleman bediene, wenn er von der heute noch ruchbaren „Verseuchung“ der 68er-Politik rede.

Das Buch schließt mit der Prophezeihung: „So droht Deutschland derzeit von rechts zusammenzuwachsen: in einer nationalistischen Formation…“ (Marc S. Huf 2.4.2019)

„Wer die Etappen der rechtspolulistischen Entwicklung und deren Rezeption studiert, findet in diesem gut lesbaren Buch wichtige, chronologisch geordnete Informationen. Das Fazit lässt es nicht bei einer pauschalen Warnung vor den wachsenden Gefährdungen der Demokratie bewenden, sondern zeigt eine übersichtlichte Analyse der Ursachen und drohenden Risiken. Der Leser versteht die endemische Ausbreitung der „neuen Rechten und „wer sie lenkt, wer sie finanziert und wie sie die Gesellschaft verändern“.

Die Geschichte wiederholt sich nicht, sie verändert sich kontinuierlich, aber es scheint doch ein konservatives Kontinuum zu existieren, das schon deshalb von Dauer ist, weil es eben seinen Sinn und Zweck darin sieht, den Status quo zu konservieren.

Kritik und Abwertung

„Sie besetzen öffentliche Gebäude, steigen auf das Brandenburger Tor, stellen Hinrichtungen nach, stören Vorlesungen, führen Flashmobs auf und marschieren durch Innenstädte. Ihr schwarzgelbes Logo, der griechische Buchstabe Lambda, ist auf zahlreichen Internetseiten präsent. In den letzten Jahren hat sich die Identitäre Bewegung (IB) fest in der politischen Landschaft verankert. Sie besteht zwar nur aus einer Aktivistengruppe von etwa 800 Mitgliedern, wird aber von Zehntausenden finanziell unterstützt. Ihre rechtsextremen Inhalte verbindet sie geschickt mit einem popkulturellen Habitus. Zentrales Thema: die angebliche Islamisierung des Abendlandes. Die gesamte Neue Rechte begrüßte die agilen Jugendlichen »ohne Migrationshintergrund«, die mit Aktionsformen der 68er-Bewegung auf sich aufmerksam machen. Beste Beziehungen bestehen längst zur Alternative für Deutschland und zu fremdenfeindlichen Organisationen im euro päischen Ausland. 13 Autoren, die seit Jahren die Entwicklungen in der rechten Szene kritisch begleiten, legen einen fundierten Übersichtsband vor, der die Entwicklung der Identitären Bewegung darstellt, ihre Ideologie analysiert, Aktionen beschreibt und Netzwerke offenlegt.“

KRITIK: „Herausgeber Andreas Speit legt mit „Das Netzwerk der Identitären“ eine fundierte Übersicht zur Ideologie und Aktionsformen der Neuen Rechten vor. In den einzelnen Beiträgen werden nicht nur Inhalte anderer relevanter Publikationen (u. a. Volker Weiß, Thomas Wagner) gut lesbar zusammengeführt, sondern durch eigene Recherchen bestätigt und erweitert. Auch werden Quellen der Neuen Rechten (u. a. Martin Sellner, Mario Müller, Götz Kubitschek) zu Veranschaulichung gelungen eingesetzt.“ (U. v. Boedefeldt, 18.11.2018)

ABWERTUNG Diese Neuerscheinung wird im Internet durch ein Rudel identitärer Kommentatoren abgewertet, oft nur mit 1-2 Zeilen und Aufforderung zur Bücherverbrennung:

„Nonsens auf hohem Level. „Allerdings lohnt es sich perfekt zum anzünden eines gemütlichen Lagerfeuer’s oder einfach zum wegschmeißen.:)“ (Ommel, 24.2.2019)

Ommel


Neuerscheinung: Identität

Francis Fukuyama: „Identität ─ Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet“

Francis Fukuyama leitet sein neues Buch mit dem Satz ein:“Dieses Buch wäre nicht geschrieben worden, hätte man Donald J. Trump nicht im November 2016 zum Präsidenten gewählt.“ Schon vor 25 Jahren wies der Wissenschaftler in seinem Band „Das Ende der Geschichte?“ auf Trumps immensen Wunsch nach Anerkennung im Geschäftsleben und Showbusiness hin. Aber nach eigenem Bekenntnis ahnte der Autor nicht, dass Trump in die Politik gehen würde

Nun setzt sich Fukuyama kritisch mit Populisten und populären Philosophen auseinander, um von Sokrates über Kant und Hegel bis Marx ein Plädoyer für die Erhaltung der Menschenwürde in der Demokratie zu halten. Vor allem untersucht er aber das relativ neue Problem der Identität. Er versucht, die Wut, den Hass und die Ressentiments gegen die freiheitliche Demokratie als Identitätsproblem zu verstehen, ohne die Anschläge gegen Rechtsstaatlichkeit in den gefärdeten Demokratien zu rechtfertigen

Dieser Versuch geht über den historischen Rückblick auf Platons Staat und die sokratische Beschreibung der „dreiteiligen Seele“ hinaus, wenn er betont, dass  „Thymos“ der Teil der Seele sei,  der sich nach Anerkennung seiner Würde sehne, „Isothymia“ hingegen das Bedürfnis, anderen gegenüber als gleichwertig zu gelten, während „Megalothymia“ den Wunsch darstelle, von anderen als überlegen betrachtet zu werden.

In elegantem Stil zeigt er gründlicher als mancher Populismuskritiker, wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet, In immer neuen Anläufen nähert er sich dem Phänomen der Identität, wenn er zum Beispiel von den Arbeitern des amerikanischen Mittelwestens spricht, die sich von einem Filmstar wie Ronald Reagan und dem TV-Prominenten Donald Trump angezogen gefühlt hätten, obwohl ihnen symbolisch nur die kleinen Rollen in Hollywood-Westernfilmen zugedacht worden seien. Die unverkennbare Tendenz zum nationalistisch agierenden Präsidenten: „America first, America first!“ ersetze vielfach die Sehnsucht nach individueller Anerkennung und Würde. Dies sei zweifellos auch ein Bildungsproblem. Das mag stimmen: Im Land der Nobelpreisträger und Elite-Hochschulen ist die Allgemeinbildung in den High schools zu kurz gekommen. Nach Fukuyama kennt nur jeder dritte Schüler die „Bill of Rights“ mit den Grundsätzen der US-Verfassung. Kein Wunder, dass sie leichter verführbar für andere, leicht greifbare Dinge sind.

Damit bleibt aber die Frage offen, wie der Autor die Identität der Amerikaner entsprechend den Verfassungsgrundsätzen stärken und gegen deren Gegner schützen will. Obwohl er nicht außer Acht läßt, dass Sokrates  –  399 Jahre vor Christus –  von Populisten hingerichtet wurde, erinnert er mit seinem Buch an die „dreiteilige Seele“ und an den berühmten Satz des ermordeten Präsidenten John F.  Kennedy: „Frage nicht, was dein Land für dich, sondern was du für dein Land tun kannst.“ Wer diesen Gedanken folgt, sollte das Buch lesen. (Marc S. Huf 2.4.2019)

Georg Büchner: Lenz

Der Dramendichter Georg Büchner, geboren am 17. Oktober 1813, kann wie Friedrich Schiller als ein Vorbote psychosomatischen Denkens in der Medizin angesehen werden. Er führte eine erbitterte Auseinandersetzung mit der restaurativen Biedermeier-Gesellschaft und wurde darüber zum Revolutionär. Der Vater, Doktor Ernst Büchner, Chirurg und Kreisarzt von Darmstadt, war ein Verehrer des siegreichen Napoleon und nach der Schlacht von Waterloo ein Anhänger der Restauration. Georg, sein ältester Sohn, hatte Medizin, Naturwissenschaften, Geschichte und Philosophie studiert, war aber in einen typischen Konflikt geraten, den er und sein Bruder Ludwig – wie einige andere Arztsöhne unter den Dichtern – austragen mussten: Ihre Väter waren meistens ablehnend oder abwesend. Georg Büchner probte den Aufstand. Die berühmte Losung der von ihm im Jahr 1834 verfassten Flugschrift Der Hessische Landbote lautete:
Friede den Hütten, Krieg den Palästen!
Er wollte die überkommenen Auffassungen von staatlicher, wirtschaftlicher, militärischer Macht, das Zeitalter der Restauration und selbst die Revolution revolutionieren, lehnte aber Terror ab, wie es der Untertitel zu Dantons Tod (1835) verriet: Dramatische Bilder aus Frankreichs Schreckensherrschaft. Der Dichter wählte die Worte so unverhüllt – auch in der Sprache einfacher Menschen im hessischen Dialekt – wie kein anderer Autor seiner Zeit. Dantons Tod und Woyzeck (1836) künden umso mehr von

komplexen inneren wie äußeren Konflikten und von inneren und äußeren Widerständen. Ein halbes Jahrhundert vor der Entdeckung der Psychoanalyse lässt Büchner den aufgeklärten Revolutionär Danton fragen:
Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?
Zu Büchners Zeiten beginnt der gespenstische Kampf der „Psychiker“ und „Somatiker“, die sich nur darin einig sind, dass die Seele selbst nicht erkranken könne. Während die Psychiker geradezu missionarisch eine moralistische Psychosomatik vertreten,4 meinen die Somatiker, psychisches Kranksein sei lediglich die Folgeerscheinung körperlicher Defizienz. Dieser Streit wird mit dem Durchbruch der naturwissenschaftlichen Medizin in der Neurologie und Psychiatrie beendet. Das geschieht zu Zeiten der Revolution von 1848, als in Europa ein Geist umgeht, dieses „Gespenst des Kommunismus“, das 150 Jahre später von dem neuen Geist des Konsumismus aus Europa vertrieben werden soll. Da das materialistische Denken nicht ausreicht, um seelisch kranke Menschen zu verstehen und die Entstehungsbedingungen des Irreseins zu erklären, wird im Jahr 1865 an der Berliner Charité eine Nervenklinik eingerichtet, um dort – auf der Suche nach der Seele – neuroanatomische Studien zu betreiben.5 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt ein Wiener Neurologe eine grundlegende Theorie der biographischen Medizin. Dieser Neurologe ist Sigmund Freud und seine Theorie die Psychoanalyse. Freud hat übrigens – wie Büchner – Hirnsektionen vorgenommen

und einen neuroanatomischen Beitrag zur Erforschung des Nervensystems der Fische geleistet. Der Privatdozent Büchner erforschte nach seiner Probevorlesung Über Schädelnerven (1835) eingehend Das Nervensystem der Barbe (1836), eines Grundfisches, der über ein großes Kleinhirn und ein kleines Großhirn verfügt. Ein Freund und Förderer schrieb Büchner am 10.6.1836, er verdanke wohl hauptsächlich den medizinischen Studien seine „Force“, die „seltene Unbefangenheit“ und gewissermaßen auch die „Autopsie“, die aus allem spreche, was er schreibe.

Georg Büchners Novelle Lenz (1835) basierte auf der Lebensgeschichte des psychisch kranken Dichters Jacob Michael Reinhold Lenz (1751–1792). Büchner hatte einige dramatische Texte dieses Dichters studiert und in seiner Novelle beispielhaft dessen Selbstverletzlichkeit in der Krise dargestellt, wie zum Beispiel mit dem folgenden, für Büchners Stil typischen, stark verdichteten Satz:
Das All war für ihn in Wunden; er fühlte tiefen unnennbaren Schmerz davon.

Auf besonders sensible Themen und Motive, mit denen sich der Dichter Lenz beschäftigt hatte, verwies bereits der Titel seines ersten Stücks Der verwundete Bräutigam (1766); später waren es Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen (1780). Zu dieser Zeit beobachteten seine Freunde in Weimar und Straßburg bei ihm ein seltsam widersinniges Verhalten, dass mit einigen Wahnideen verbunden zu sein schien. Dazu bemerkte Georg Büchner am Anfang seiner Novelle, ohne auf eine psychopathologische Deskription zu verfallen, sondern sogleich ins Poetische gewendet und gelassen:
Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte.

Das Thema der Pression und Depression mit Erscheinungsbildern des Wahns variierte er wenig später in den dramatischen Woyzeck-Szenen. Neu und radikal war aber auch die Kritik an einer sadistisch herrschenden Medizin, die einen einfachen Mann, wie den Soldaten Franz Woyzeck, zum wissenschaftlichen Versuchsobjekt degradierte. Obwohl dieser Woyzeck seine Marie erstochen hat, soll er nach dem Willen Büchners nicht zum Tod verurteilt und öffentlich hingerichtet werden, wie jener psychisch kranke Täter gleichen Namens, dessen Kranken- und Kriminalakte dem Drama als Vorlage diente. Das Ende bleibt offen, das Stück ist ein Fragment wie Büchners Leben: Am 19. Februar 1837 erlag er 23-jährig einer Infektionskrankheit, die er sich bei der Arbeit mit Fischpräparaten zugezogen haben soll. Es bestand Typhus-Verdacht.

Auch ein Suizid wurde diskutiert. Seine schon während der Gymnasialzeit geäußerte Auffassung von dem „Selbstmörder aus physischen und psychischen Leiden“, der eigentlich kein Selbstmörder, sondern vielmehr „ein an Krankheit Gestorbener“ sei, spricht entschieden dagegen, ebenfalls sein Prosatext Lenz. Denn er lässt den wunderlichen Protagonisten sagen:
Ich mag mich nicht einmal umbringen: es ist mir zu langweilig.
Dieses ironisch gefärbte Motiv der Langeweile durchzieht auch das Drama Dantons Tod und das Satyrspiel Leonce und Lena (1836). Das Suizidthema wird in beiden Stücken einmal ernsthaft und distanziert, ein andermal rein satirisch behandelt. Daraus auf eine Suizidtendenz oder gar einen vollendeten Suizid des Dichters zu schließen, kann ebenso wenig überzeugen wie ein pathographisches Gutachten, in dem er als „abnorme“ Persönlich keit dargestellt wird.



Georg Büchner

Der eigen-sinnige Mensch (Helmut Milz)

Rezension: Prof. Dr. Stefan Koelsch, Neurowissenschaftler und Musikforscher, Universität Bergen, Norwegen, Januar 2020

In seinem wichtigen, gut gelungenen Buch plädiert der Psychosomatiker und Psychotherapeut Helmut Milz für eine sensitive, ganzheitliche Medizin. Er beschreibt eindringlich und allgemein verständlich, wie Leib, Seele, Sinne und Lebenssituation zusammenhängen. Milz bezieht daraus bahnbrechende Erkenntnisse, die zum Grundwissen aller Mediziner gehören sollten.Mit vielen Aha-Erlebnissen überzeugt der Autor die Leser davon, dass Organe, Emotionen, Sinne und soziale Situation gemeinsam betrachtet werden müssen, um eine ärztliche Diagnose zu
stellen und ein angemessenes Therapiekonzept zu entwickeln.“

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Rezension: Prof. Gerd Folkers, Pharmazie, vormals Direktor des Colledium Helveticum der Universität Zürich/ZHDK, Januar 2020

Heute ist es die „molekulare Anatomie“, die uns über Krankheitsmechanismen Auskunft gibt. Helmut Milz legt eine etwas andere Anatomie vor. Auch er spricht über das Herz in physiologischer Perspektive. Da ist es eine Harvey’sche Pumpe. Das Herz hat beim Mediziner Helmut Milz jedoch mehrere Bedeutungen, und was folgt ist eine kleine Kulturgeschichte des Herzbegriffs bis in die Moderne. Bis zur Kulturkritik, die der „kardiologischen Rehabilitation“ weniger Interesse zumisst, einfach weil sich die entsprechenden Therapiennicht prominent publizieren lassen. Und Letzteres, die Publikation, ist die Währung der wissenschaftlichen Karriere. „Der eigensinnige Mensch“ ist ein wertvolles Buch, weil es hilft, einen Perspektivenwechselvorzunehmen, eine Übung, die zur eigenen Verortung eminent wichtig ist.

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Rezension: Prof. Giaco Schiesser, Zürcher Hochschule der Künste 17.6. 2019:

«Der Körper ist Mittelpunkt, Werkzeug, Ausdrucksmittel und Bühne des Lebens. Er verändert sichin, durch und mit diesem», schreibt der Autor in den einleitenden Worten zu seinem Buch «Dereigen-sinnige Mensch»,  mit dem Untertitel  «Körper, Leib und Seele im Wandel».

Grundlage für unser je individuelles Leben – ob gelebt oder nur erduldet – sind unsere fünf Sinne. Diese sind das Tor gleichermaßen zu den Mit-Menschen, wie zu eigenen Experimenten, Erfahrungen und Erkenntnisse. Durch die Sinne nehmen wir auf, in uns und um uns herum kreuchtund fleucht. Und stets bilden wir, bilden sich die Sinne – mal unbewusst, mal bewusst – um oderweiter. Diese Aus- und Weiterbildung der fünf Sinne ist, wie Marx schon 1844 hellsichtig bemerkte, nicht nur eine individuelle Arbeit, sondern «eine Arbeit der ganzen Weltgeschichte».
Nun handelt das Buch nicht nur von den fünf Sinnen oder genauer, wie es immer wieder betont: von den Systemen der einzelnen Sinne und deren komplexem Gesamtsystem bzw. dessenPlastizität oder funktionellen Veränderungsfähigkeit, sondern auch vom Eigen-Sinn der Menschen.

Am Eigen-Sinn – einen Begriff, den es nur in der deutschen Sprache gibt , und der etwa in der englischen Sprache als deutsches Lehnwort übernommen wurde (etwa in der Übersetzung von Hegels Werken oder in den Arbeiten von Judith Butler) – ist zweierlei interessant. Der Begriff hat seit dem Mittelalter vornehmlich eine schlechte Presse. Fürchtete die katholische Kirche einst Wollust und Hybris der Menschen, die eigensinnig sein wollten, und bekämpfte sie wegen ihrer menschlichen Anmaßung gegenüber Gott aufs Schärfste, hat sich die negative Konnotation im Alltag bis heutegehalten: ein eigensinniger Mensch gilt als stur, starr starrköpfig, als trotzig, unbelehrbar, auf sich bezogen.

Es gab aber immer auch eine subdominante, positive Tradition, welche etwa vom kürzesten Märchen der Gebrüder Grimm – «Das eigensinnige Kind» – über Alexander Kluges «Geschichte und Eigensinn»bis zu Foucaults «Ästhetik der Existenz» läuft, und die das Unabgegoltene, das Offene eines vor einem liegenden Leben in dem Begriff des Eigensinns stark machten. Zum zweiten, und auf einer ganz anderen Ebene, es liegen in dem Begriff Eigen-Sinn die Begriffe Sinn und Sinnlichkeit ganz nah beieinander. Die eigene Sinnlichkeit und der eigene Sinn, den man seinem Leben gibt, sind so aufs Innigste verschaltet.

Von allen drei Dingen handelt das Buch – es entfaltet ein eindrückliches Panorama derverschiedenen Sinne, aus Sicht der Alltagssprache, der wissenschaftlichen Entwicklung und ausSicht aktueller Problemstellungen, und es fördert und fordert die Eigen-Sinnigkeit für ein erfüllendes Leben, das gleichermaßen uns alle als Individuen wie auch die Gesellschaft als Ganzes im Auge hat.

In den 1950er Jahren, lange bevor die Begriffe Inter- oder Transdisziplinarität gebraucht oder gar en vogue waren, äußerte Hans Eisler, der deutsche Komponist: «Wer nur von Musik etwas versteht, versteht auch davon nichts».

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Prof. Dr. Gerd Glaeske, Universität Bremen – SOCIUM 1. Juni 2019

Früher Herz, heute Gehirn – vom Sinnes-Wandel der Menschen

Es ist ein erstaunliches Buch, das Helmut Milz, Facharzt für psychosomatische Medizin und Allgemeinmedizin, gerade unter dem Titel „Der Eigen-Sinnige Mensch – Körper, Geist und Seele im Wandel“ publiziert hat. Es geht dabei um nicht weniger als die Beantwortung der Frage, wie sich Erleben und Verstehen des menschlichen Körpers während der letzten Jahrhunderte bis heute verändert haben, wie sich die sinnlichen Erfahrungen von Tasten, Berühren, Hören oder Schmecken, die unser Verhalten geprägt haben, mehr und mehr im Rahmen der neurobiologischen Forschung zu messbaren elektrischen Impulsen und oftmals zu Erklärungen jenseits aller Sinnlichkeit geführt haben – ein Mikrogramm mehr oder weniger von einer Transmittersubstanz wie Serotonin in unserem Gehirn will auf diese Weise eine Depression erklären und damit therapeutische Interventionen mit Serotoninwiederaufnahmehemmern (SSRI) erklären.

Dabei wissen wir heute, dass bei depressiven Menschen noch nie ein Serotoninmangel nachgewiesen werden konnte, ein solcher Mangel darf in der Zwischenzeit als Märchen bezeichnet werden. So wichtig die Neurobiologie als wissenschaftliche Disziplin auch sein mag, so wichtig ist es gleichzeitig, die Sinne der Menschen nicht gering zu schätzen, sondern eine Verbindung zwischen gewachsenen Erfahrungen und aktuellen Erkenntnissen in der Medizin und ihrem Umgang mit Patientinnen und  Patienten herzustellen – eben nicht nur das Gehirn als Mittelpunkt unseres Körpers zu betrachten, sondern ebenso das Herz, sowohl im organischen wie im sinnlichen Zusammenhang.

Die Kapitel, die Herr Milz in seinem 339seitigen Buch aufgreift, haben mit unseren wichtigsten „eigenen Sinnen“ bzw. den Funktionsbereichen unseres Körpers zu tun. Es geht um das Berühren („Die Welt ertasten und empfinden), um das Schmecken, um das Riechen („Immer der Nase nach“), um das Hören und das Sehen. Die weiteren Kapitel handeln mit Herzen, vom Atmen, von unserem Nervengeflecht, vom Bauch und Baugefühl, von den Knochen („Dynamischer Halt und lebendiges Gewebe“), von der Muskelkraft und dem Muskelsinn („Bewegung und Gespür“) und schließlich vom inneren Fluss des Lebens („Was in uns fließt“). In jedem der etwa 20 – 30seitigen Kapitel wird erläutert, was es mit den jeweiligen Sinnen, auch in einer kurzen historischen Betrachtung auf sich und wie sich diese ehemals z.T. archaischen Sinneserfahrungen hin zu unserer Zeit, auch im Blick der Wissenschaft, entwickelt haben: Im ersten Kapitel heißt dann z.B. eine Zwischenüberschrift: „Die Hand – empfangen, begreifen, handeln“, unterlegt mit dem Zitat des Physikers Isaac Newton, der meinte: „Mangels anderer Beweise würde mich der Daumen vom Dasein Gottes überzeugen“, weil der „Pinzettengriff“ (Daumen gegen die Kuppen anderer Finger) als ein besonderer Entwicklungssprung in der Menschwerdung gilt. Und es geht dann auch über ärztliche und therapeutische Berührungen  hin zum Händedruck als Kommunikationsmittel – wie wissen alle, wie wir Menschen gerade durch den ersten Händedruck (lasch, fest, „Schraubstock“) auch mit unseren Sinnen einordnen.

Bei Schmecken geht es z.B. um die Metaphern des Geschmacks – süß auch als Beschreibung von Wohlgeschmack und Freude, auch Liebe und sogar Rache können mit dem Begriff „süß“ in Verbindung gebracht werden, bei „salzig“ wird der Zusammenhang in der Bergpredigt angesprochen („Ihr seid das Salz der Erde“), aber auch die zusätzliche Gratifikation römischer Legionäre, die zu ihrem Sold zusätzlich Salt als Lohn erhielten, daher der Begriff „Salär“ (lat. Salarium).

Das Hören hat sich gerade auch in der Psychotherapie seinen wichtigen Platz erhalten, technische Apparaturen stehen nicht bereit, um die persönlichen Gespräche mit den Klienten zu objektivieren. Daher auch die Supervision, die ebenfalls mit Sprechen und Hören bei einer/m erfahrenen Kolleg*in zu tun haben.

In einem Kapitel „der Orte“ von Sinnen geht es um die medikamentösen Lösungsversuche zur Verbesserung des Nervenkostüms. Dabei werden Heroin, seinerzeit noch eine Hustenmittel der Firma Bayer, Morphin und Benzodiazepine wie Valium („Mother’s little Helper“) ebenso erwähnt Coca-Cola, das in seinen ersten Zeiten tatsächlich einen geringen Anteil von Kokain enthielt. Nachdem aber ein Coca-Cola bedingter Anstieg der Vergewaltigung von Frauen und vermehrte allgemeine Gewalt bekannt wurden, musste das Kokain aus den Getränken entfernt werden.

Die Entwicklung im Umgang mit unseren Sinnen und Sinneserfahrungen wird von Helmut Milz durchaus mit kritischer Distanz begleitet. Einerseits wird es kaum verhinderbar sein, dass sich die Entwicklung einer computergestützten, immer tiefer in das menschliche Gehirn eindringenden Entschlüsselungswissenschaft aufhalten lässt. Anderseits lassen sich dadurch aber intuitiver Spürsinn, Bauchgefühl, Empfindungen der Herzens und vor allem Gemeinsinn der Menschen mit- und untereinander nicht verdrängen, weil sie sich einer objektiven Messbarkeit entziehen. Ein „gelingendes Leben“ ist auch im Spiegel dieser Sinnesempfindungen zu erklären und zu entwickeln, messbare elektrische Impulse werden sind in diesen Fällen weder „sinnstiftend“ noch erklärend. Dies sollte auch bei den digitalen Selbstoptimierungsprogrammen bedacht werden, da hinter all den anfallenden Daten Interessen zu vermuten sind, die entweder für  Geschäftemacherei oder technische Kontrolle genutzt werden.

Das Buch von Helmut Milz ist ein ausgesprochen lesenswertes und gelungenes Manifest zur Bedeutung eines wohlverstandenen „Eigensinns“, der für uns Menschen auch eine unverwechselbare Individualität in unserem (Er-)Leben bedeutet. Die einzelnen Kapitel zeigen aber auch die Veränderbarkeit der menschlichen Sinne im Laufe der Zeit, die durch kulturelle, gesellschaftliche und wissenschaftliche Einflüsse zustande kommen. Pflegen wir also die Kommunikation und die Wahrnehmung von Körper und Sinnen, um Herz und Gehirn zu einer gemeinsamen Mitte unserer Persönlichkeit zu machen oder zu stärken. Das – übrigens auch noch optisch schön gestaltete – Buch von Helmut hilft uns zu erkennen, warum dies ein lohnender Weg ist. Ich habe gerne in diesem Buch gelesen und möchte es allen ans Herz legen, die mit wachen Sinnen ihr Leben gestalten wollen.

Helmut Milz (2019) Der Eigen-Sinnige Mensch. Körper, Leib & Seele im Wandel. Edition Zeitblende im AT Verlag. Aarau und München. 38,00 Euro

Siehe auch Veranstaltung mit Podium

Helmut Milz
geboren 1949, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie für Allgemeinmedizin; Studien der Körpertherapie; Honorarprofessor für Public Health;
ehemaliger Berater für Gesundheitsförderung bei der WHO. Er lebt in Marquartstein in Oberbayern.

Der Mediziner Helmut Milz

In seinem Buch „Der eigen-sinnige Mensch“ unternimmt der Mediziner und Publizist Helmut Milz eine ungewöhnliche Reise durch die Sinnenwelt des Körpers. Er erzählt vom Leib und unseren Körperbildern in den mannigfaltigen Wechselwirkungen mit Kultur, Sprache, Umwelt, Geschichte, Heilkunde, Kunst und Wissenschaft.

Im Gespräch mit Michael Langer Deutschlandfunk