Georg Büchner: Woyzeck

WOYZECK
von Georg Büchner
Regie: Jan-Christoph Gockel
Premiere 19.10.2019 › Schauspielhaus

Immer noch rasiert Woyzeck seinen Hauptmann, isst die verordneten Erbsen, quält mit der Dumpfheit seiner Liebe seine Marie, staatgeworden seine Bevölkerung, umstellt von Gespenstern. (Heiner Müller)

Georg Büchners wenige Monate vor seinem plötzlichen Tod 1837 geschriebenes Fragment stellt erstmals in der dramatischen Literatur einen sozial Deklassierten ins Zentrum einer Tragödie – mit Woyzeck beginnt das moderne Drama. Büchners Woyzeck ist kasernierter Soldat, der sich durch Dienstleistungen etwas Geld verdient, um seine Geliebte Marie und ihr gemeinsames uneheliches Kind durchzubringen. Er ist ein Getriebener und Geschundener: vom Doktor zu medizinischen Experimenten missbraucht, vom Hauptmann verhöhnt, vom Tambourmajor verprügelt, hört er Stimmen, die ihn zum Mord antreiben, bis er schließlich Marie aus Eifersucht mit einem Messer tötet.
Grundlage der fiktionalen Handlung waren historische Gerichtsfälle, einer von ihnen ist der des Johann Christian Woyzeck, der 1821 seine Geliebte Johanna Christiane Woost mit einer abgebrochenen Degenklinge erstochen hatte. In diesem Mordprozess ging es vor allem um die Schuldfähigkeit des Angeklagten: Verfügte er über einen freien Willen und war damit schuldig? Büchner greift diese Frage auf und gibt ihr eine philosophische Dimension, indem er die Willensfreiheit des Einzelnen, die seit Immanuel Kant Grundlage unserer aufgeklärten Moral und Rechtsordnung ist, in Zweifel zieht. Ebenso kritisch verhält sich Büchner zu der alles klassifizierenden Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts: mit Schädelmessungen und Typendefinitionen wurden Menschen nach ihrem Äußeren in Kategorien eingeteilt. Dies war die Geburtsstunde der sogenannten „Rassenlehre“, und die Methoden der „Physiognomik“ erleben in aktuellen biometrischen Überwachungsverfahren ihre Wiederauferstehung.
Um diese Hintergründe auf der Bühne sinnlich erlebbar zu machen, arbeitet Regisseur Jan-Christoph Gockel erneut mit dem Puppenbauer und Puppenspieler Michael Pietsch zusammen. Zum Spielensemble gehört außerdem der in Dresden lebende Musiker und Songschreiber Ezé Wendtoin Music.

Der Dramendichter Georg Büchner, geboren am 17. Oktober 1813, kann wie Friedrich Schiller als ein Vorbote psychosomatischen Denkens in der Medizin angesehen werden. Er führte eine erbitterte Auseinandersetzung mit der restaurativen Biedermeier-Gesellschaft und wurde darüber zum Revolutionär. Der Vater, Doktor Ernst Büchner, Chirurg und Kreisarzt von Darmstadt, war ein Verehrer des siegreichen Napoleon und nach der Schlacht von Waterloo ein Anhänger der Restauration. Georg, sein ältester Sohn, hatte Medizin, Naturwissenschaften, Geschichte und Philosophie studiert, war aber in einen typischen Konflikt geraten, den er und sein Bruder Ludwig – wie einige andere Arztsöhne unter den Dichtern – austragen mussten: Ihre Väter waren meistens ablehnend oder abwesend. Georg Büchner probte den Aufstand. Die berühmte Losung der von ihm im Jahr 1834 verfassten Flugschrift Der Hessische Landbote lautete:
Friede den Hütten, Krieg den Palästen!2
Er wollte die überkommenen Auffassungen von staatlicher, wirtschaftlicher, militärischer Macht, das Zeitalter der Restauration und selbst die Revolution revolutionieren, lehnte aber Terror ab, wie es der Untertitel zu Dantons Tod (1835) verriet: Dramatische Bilder aus Frankreichs Schreckensherrschaft. Der Dichter wählte die Worte so unverhüllt – auch in der Sprache einfacher Menschen im hessischen Dialekt – wie kein anderer Autor seiner Zeit.

Es ist der Soldat Franz Woyzeck, ein einfacher, sensibler und psychisch kranker Mann, der immer wieder fremde Stimmen, die ihm Befehle erteilen, zu hören glaubt. Wenn sich die Bühne dreht, erfährt man, dass er auch von seinen realen Gegenspielern im Befehlston gedemütigt wird. In den folgenden Szenen muss er den Stiefelknecht eines Hauptmanns spielen und sich zugleich dessen Mahnung zur Sittlichkeit anhören: Woyzeck, Er hat keine Moral!
In der Dekoration – Beim Doktor – dient er der Wissenschaft als Versuchsobjekt:
Er ist ein interessanter Casus, Subjekt Woyzeck.
Kaum hat sich die Bühne wieder gedreht, wird der von akustischen Halluzinationen und sinnlosen Befehlen gequälte Mann in der entscheidenden Szene – Marie und Woyzeck – zum eifersüchtigen Täter: Einer fremden inneren Stimme folgend, ersticht er seine Geliebte. Sie hat ihn mit dem Tambourmajor betrogen, diesem starken Kerl mit weißen Handschuhen und großem Federbusch. Die Realitätsbezogenheit des Textes, der sich auf die Krankengeschichte des historischen Woyzeck aus Leipzig stützte, wirkte sich nachhaltig auf die Rezeption, aber nachteilig auf die Charakterisierung des Autors aus. Büchner hatte sich als Autor nicht nur mit Franz Woyzeck, sondern auch mit Reinhold Lenz beschäftigt und wurde nun fehlinterpretiert, so als habe er sich als Autor und Nervenspezialist im Umgang mit den psychisch kranken Protagonisten seiner Texte gleichsam bei ihnen angesteckt. Dass diese Assoziationen keine Seltenheit darstellten, wusste laut Büchner schon der Dichter Reinhold Lenz, der ausdrücklich gebeten hatte, ihn nicht nach seiner Dichtung zu beurteilen.14 Obwohl man bei Büchner keine Symptome einer Geisteskrankheit entdeckte, glaubte man doch, „ein großes Quantum Fatalismus“15 und eine „bionegative“ Konstitution16 feststellen zu müssen. Im Jahr 1854 meinte ein Publizist, dass er bei der Wahl seiner dichterischen Stoffe „das Kränkliche seines eigenen Wesens“ bekundet habe:

“ Man könnte ihn gewissermaßen einen pathologischen Dichter nennen. Schwächlich-überreizte, überspannte, geistig und sittlich angefressene Gestalten sind ihm für seine Darstellungen die liebsten.“ (Georg Fein: Tagebuchnotiz, 23.4.1854, zit. n. J.-C. Hauschild: Büchner. Reinbek b. Hamburg 1997, S. 144)