Alfred Döblin, Arzt und Dichter II

Am Übergang von der Belle Époque in die Moderne fand eine neue kulturelle Aufwertung der Städte Wien und Weimar statt. So sprach man von der Wiener Moderne und nach dem Ende der Wilhelminischen Ära von der Weimarer Republik. Verglichen mit diesen epochalen Begriffen beschrieb Alfred Döblins Romantitel Berlin Alexanderplatz (1929) zwar nur den kleinen Teil einer großen Stadt, aber doch einen für die Weimarer Zeit charakteristischen Ort lebhaften und lauten kulturellen Lebens.
Alfred Döblin (1878-1957), der in Berlin an der Charité studierte und sowohl nervenärztlich als auch internistisch tätig war, gilt als Wegbereiter der modernen Prosa im 20. Jahrhundert.
Er wurde in Stettin als viertes Kind des Ehepaars Max und Sophie Döblin geboren, die gemeinsam ein Schneideratelier führten. Die Eltern trennten sich, als er zehn Jahre alt war, und der Vater wanderte in die USA aus. Die Mutter sah in dem talentierten, trotzigen und keineswegs erfolgreichen Schüler keinen künftigen Schriftsteller, sondern eher einen Zahnarzt. Wie viele Arztdichter, die den elterlichen Rat teilweise befolgten, fügte er sich. An der Charité hörte der von der Medizin „faszinierte“ Student die letz- 
ten  Vorlesungen  von  Rudolf  Virchow  (1821–1902)  und  Ernst  von  Berg-mann (1876–1907);  er bestand das ärztliche Abschlussexamen (1904) und 
verfasste  während  seiner  kurzen  Tätigkeit  an  der  Freiburger  Universität  eine
 Dissertation über die alkoholbedingte Demenz (1805),  die durch ein 
amnestisches  Syndrom  mit  Konfabulationen  gekennzeichnet  ist:  

In  diesem Fall werden größere Erinnerungslücken – weit mehr als allgemein üb- 
lich  –  durch  phantastische  Einfälle  ersetzt.  Die  neuen  psychologischen 
Erkenntnisse  waren  geeignet,  sein  Interesse  an  der  Poesie  zu  verstärken, 
da  er  folgerte,  dass  das  Erinnern,  Vergessen  und  Konfabulieren  sowohl 
 zur Struktur psychotherapeutischer als auch kreativer Prozesse gehörte.  
         Von  1906  -1908  war  Döblin  Assistenzarzt  an  der  Irrenanstalt  Buch  
und  anschließend  am  UrbanKrankenhaus  in  Berlin  tätig.  1912  feierte  er 
Hochzeit mit der Medizinstudentin Erna Reiss (1888–1957). 

Sein Durchbruch  als  Schriftsteller  war  der  historische  Roman  
über  den  chinesischen Rebellen Wang- lun (1916).    Während  des  militärärztlichen  Dienstes  in  Elsass-Lothringen begann er mit der Arbeit an dem polyphonen Prosatext 
Wallenstein,  in  dem  er  nicht  nur,  wie  einst  Friedrich  Schiller,  „dreißig  jammervolle 
Kriegsjahre“  beklagte, sondern – aufgrund eigener Erlebnisse an  der  Westfront  –  auch  die  Absurdität  aller  großen  Kriege  darstellte,  in 
denen  Leben  von  Abermillionen  Menschen  um  ökonomischer  Vorteile  willen geopfert werden.  Seine Romane waren, wie ein Chronist es formulierte, „Gegenentwürfe“ gegen die Hybris des wilhelminischen Kaiserreichs, gegen die Ver- 
götzung ‚großer Männer‘, gegen die Verherrlichung des Krieges  und gegen einen ökologisch ignoranten Technik-Optimismus.  (Klaus Müller-Salget 2005).

In  dem  Roman  Berlin  Alexanderplatz  (1929)  fließt  zwischen  kunstvoll 
montierten  Passagen  die  erlebte  Rede,  der  stream  of  conciousness  
des  Großstädters, dem die Ursache allen Übels – immer erst wenn es zu spät 
ist  –  in  einem  einzigen  Satz  bewusst  wird:  „Das  viele  Trinken“. 
Es  geht  um  Mord  und  (Über-)leben  in  Berlin:  Franz  Biberkopf  hat  seine  treulose 
Freundin  Ida  erschlagen.  Nach  der  Haftentlassung  sucht  der  reuevolle  
Antiheld ohne Umschweife eine Prostituierte auf; dieses Unterfangen wird 
mit  ungewöhnlichen  stilistischen  Mitteln,  d.h.  mit  einer  in  den  Erzähltext 
eingefügten  Börsenmeldung  kommentiert:  „Tendenz  lustlos,  später  Kurs- 
rückgänge.“   Biberkopf  will  künftig  anständig  bleiben,  ist  aber  verführbar  und  wird  zum  Einbrecher  und  Zuhälter,  zuletzt  aber  zum  Insassen  und  Hilfsportier der 
Irrenanstalt Buch. Seiner Besserung folgt die Bekehrung in 
religiöser Verklärung.  

         Nach  dem  Reichstagsbrand  vom  27. 2. 1933  emigriert  Alfred  Döblin 
über  die  Schweiz  nach  Paris  und  wird  drei  Jahre  später  französischer  Staatsbürger.  
1940  flieht  er  vor  den  deutschen  Truppen  in  die  USA.  In 
Hollywood  arbeitet  er  als  Drehbuchautor.  Erst  nach  dem  Zweiten  Welt-krieg  erfährt  er,  dass  sich  sein  Sohn  Wolfgang  in  Frankreich  das  Leben 
genommen  hat.  1949/1950  erscheint  sein  Roman  November  1918.  Eine 
deutsche  Revolution.   1953  kehrt  er  nach  Paris  zurück,  lebt  dort  isoliert,  
krank und verarmt. Am 26. Juni 1957 stirbt er 78-jährig im Verlauf einer 
Parkinson-Krankheit in der Nervenklinik Emmendingen.  

Alfred Döblin (Porträt E.L. Kirchner 1912)