Ophelia

Blick ins Buch: Die Visite

AMBERG Ein Mörder mitten unter uns? Unheimlicher Verdacht. Une femme frugale, äh, femme fragile.

„Schöne Jugend“. Ist sie nicht im Seerosenteich ertrunken? Ging sie ins Wasser? „Ein Geschöpf, geboren und begabt für dieses Element“, wie der Dichter sagt. „später, am Morgen, gegen die weiße Dämmerung hin“, wurde sie gefunden. Es tut weh, „dass Gott sie allmählich vergaß!“

(aus K.F. Masuhr: „Die Visite“, Satyrspiel, Berlin 2014, S.43)

John Everett Millais

Im Haar ein Nest von jungen Wasserratten,
Und die beringten Hände auf der Flut
Wie Flossen, also treibt sie durch den Schatten
Des großen Urwalds, der im Wasser ruht. […]

Georg Heym

Mit dem Gedicht Schöne Jugend spielte Gottfried Benn auf die Figur der Ophelia an, die gemeinhin als ein zerbrechliches feminines Wesen beschrieben wird und mehr am Jenseits als am Diesseits interessiert zu sein scheint: Sterben, Tod und Leichnam sollten in der Kunst stets ästhetisch ansprechend abgebildet sein. Doch Benn zerstörte das romantische Stereotyp der femme fragile. In neuer, expressionistischer Darstellung bildeten jetzt ekelerregende Autopsie-Befunde einen Kontrast zu den Bildern „schöner“ Wasserleichen:

SCHÖNE JUGEND

Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte,
sah so angeknabbert aus.
Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig.
in einer Laube unter dem Zwerchfell
fand man ein Nest von jungen Ratten.
Ein kleines Schwesterchen lag tot.
Die andern lebten von Leber und Niere,
tranken das kalte Blut und hatten
hier eine schöne Jugend verlebt.
Und schön und schnell kam auch ihr Tod:
Man warf sie allesamt ins Wasser.
Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten!

Gottfried Benn

Quellen: Ophelia Tochter des Polonius in der Hamlet­tragödie (1603) von William Shakespeare. Hamlet  engagiert  eine  Schauspieltruppe,  die bei  ihrem  Auftritt  den  König  als  Giftmörder  entlarvt. Ophelia wird wahnsinnig und ertränkt sich im Fluss. (Hamlet 7, IV): „Ein Geschöpf, geboren und begabt für dieses Element.“ [Zur Kritik der „schönen Leichen“: Elisabeth Bronfen: Over her dead Body. Death, Femininity and the Aesthetic. Manchester 1992].
Zum Ophelia-Motiv s.a. Arthur Rimbaud (1854–1891) „Ophelia“ II in   sämtliche Dichtungen. Gedichte  1869–1871, s.  29,  2004).  „Ô  pâle  Ophélia!  Belle comme la neige!“ – „O du, so schön wie schnee, Ophelia, du bleiche“ und Georg Heym (1887–1912):
Die tote im Wasser (1910) mit Ophelia­Motiv: „Im Haar ein Nest von jungen Wasserratten.“; s.a. Gottfried Benns Gedicht aus dem Morgue­-Zyklus  (1912):  „Schöne  Jugend“.  Bei  der  Autopsie eines ertrunkenen Mädchens findet sich unter dem Zwerchfell ein Rattennest. Die jungen Ratten hatten hier eine „schöne Jugend“  verlebt; s. a. Bertold  Brecht,  Ballade  vom  ertrunkenen Mädchen (1919): „Als ihr bleicher Leib im Wasser verfaulet war, geschah es (sehr langsam), dass Gott sie allmählich  vergaß.“   Peter  Huchel:  „Ophelia“  im  Gedichtband  „Gezählte Tage“, Frankfurt a. M. 1996: „Später, am Morgen, gegen die weiße Dämmerung hin / das Waten von Stiefeln / im seichten Gewässer.“

Ophelia in „Die Visite“

La Visite – exerçant la vivisection

Karl F. Masuhr: Die Visite. Berlin 2014 Karl F. Masuhr: La visite

La pièce de théâtre se déroule dans une clinique à la montagne de cerfs. Avec le regard d’un insider exerçant la vivisection, l’auteur Karl F. Masuhr transfère le personnel et les patients au théâtre.
A travers un petit tour avec des dames, on perçoit simultanément des moments scéniques de la réalité clinique aux différents niveaux: aux longues couloirs, au cabinet, au laboratoire de recherche expérimentale et partout où les gens piétinent, sont dans le coma ou font le mort. Jusqu’au moment où se passe un meurtre et le lecteur et le public de théâtre seront impliqués dans le règlement de comptes avec le coupable. Les personnages entrant en scène: un médecin-chef ayant un grain qui adore les jeux de mots et méprise les lieux communs et plutôt retarde le déroulement dans la clinique; le chef de clinique hyperactive, un faune intrigant lié avec la cadre de services administratifs éméchée notoirement; une criminaliste, investiguant négligemment, pendant que le protagoniste attractive la poursuit intensément de ses assiduités; une étudiante en médecine déterminée et une infirmière pas moins fière; aussi des patients professionnels et Monsieur Messias, habitant au souterrain de la clinique… A la fin: des oiseaux au service du nuit, précisément trois femmes enlevant les masques après ce jeu ardent. Aux différents niveaux et sur sa propre « scène intérieure », le lecteur perçoit simultanéité. Il ou elle ne s’imagine non seulement des attraits visuelles et acoustiques changeants, mais aussi olfactives, qui l’auteur prescrivait au public de théâtre.

Die Visite als wandelnde Supervision der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Oder welchen Sinn erfüllt sie? Obwohl wir wissen, dass die Visite vor allem der Verbreitung von Erregern in der Klinik dient, ist der Fluor albus immer noch Usus. Viele Krankenhausinfektionen werden durch den täglichen Händedruck von Arzt und Patient verursacht. Die Ärzte verständigen sich fachlich in einer toten Fremdsprache. Nach der Visite wird das Medizinerlatein in die Umgangsprache übersetzt. So kommt es, dass sich die KrankenpflegerInnen untereinander und mit den Patienten über etwas verständigen, was die Ärzte nicht gesagt und nicht gemeint haben. Die Visite gleicht einem modernen Satyrspiel.

Material: „Obwohl die Visiten zu den wichtigsten täglichen Aktivitäten auf einer Intensivstation gehören, gibt es in Bezug auf Form und Inhalt der Visiten keine etablierten Konzepte oder Standards.“ (Die Visite auf der Intensivstation R. Riessen, N. Celebi, P. Weyrich, M. Haap Intensivmedizin + Notfallmedizin 48(5):403-410. DOI:10.1007/s00390-010-0240-z) N.B. Neuerdings geht man mit dem Tablet-PC auf Visite An der Klinik für Neurologie der Charité – Universitätsmedizin Berlin greifen Ärzte während der Visite mit dem Tablet-PC auf Patientendaten des Klinikinformationssystems zu. Das erleichtert angeblich den Stationsalltag für die Ärzte spürbar und könnte den Weg hin zu einem weitgehend papierlosen Krankenhaus beschleunigen: An der Neurologischen Klinik der Charité wurde eine App für die mobile Tablet-PC-Visite eingeführt, die Zugriff auf alle im digitalen Klinikarchiv abgelegten Befunde und auf Bilddaten bietet. Siemens konstatiert: „Die Visiten wurden dadurch deutlich effizienter. Gleichzeitig intensivierte sich der Patientenkontakt, weil Laborwerte andere Befunde direkt am Bett besprochen werden können… Der Kollege mit dem Tablet-PC ist immer schneller. Überhaupt hat sich der Ablauf der Visiten durch die Einführung des Tablet-PC stark zum Positiven verändert. “ http://www.healthcare.siemens.de/siemens_hwem-hwem_ssxa_websites-context-root/wcm/idc/groups/public/@de/documents/download/mdax/mjc1/~edisp/news-and-events_kundenmagazine_inside-health-it-special_ausgabe-16_s64-67_charite-ishmed-00670579.pdf Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Titelabbildung: Dieter Masuhr Foto: © Philipp-Haas.com ISBN 978-3-936345-94-0

Bücher von Helmut Milz: Körpererfahrung und Psychosomatik

Was den erfahrenen Arzt und Autor auszeichnet, ist sein Sensorium für das, was die Menschen angeht und was ihm selbst nahegeht.

Helmut Milz ist Mediziner, Psychotherapeut und Autor, der insbesondere für seine Beiträge zur Psychosomatischen Medizin, Gesundheitsförderung und Körpertherapie bekannt geworden ist. Er war bis 2014 Honorarprofessor im Fachbereich Gesundheitswissenschaften der Universität Bremen (vgl. Wikipedia).

Der wiederentdeckte Körper
Körpererfahrungen

Der eigensinnige Mensch

Ein wunderbares Werk

„Du selber machst die Zeit: das Uhrwerk sind die Sinnen: Hemmst Du die Unruh nur, so ist die Zeit von hinnen.“ (Angelus Silesius)

Man spricht nicht mehr oft vom „Werk“ eines Autors, sondern von dessen „Text“. Aber in diesem Fall sei auf die Wirkung eines besonderen Werks hingewiesen. Schon der Titel „Der eigensinnige Mensch“ nimmt den Leser gefangen. Eben dachten wir noch an all den elektronisch vermittelten Unsinn, z.B. das digitale Spielzeug in der Hand der Kleinkinder, und an ihren Starrsinn, wenn man es ihnen wegnehmen will. Dann aber erinnert uns der Eigensinn, so wie ihn der Autor versteht, an den natürlichen Widerstand, der jeder Form von Autonomie zugrunde liegt. Auch Schreiben ist Widerstand.

Helmut Milz gelingt es darüber hinaus leicht, mit dem Untertitel „Körper, Leib und Seele“ unser wachsendes Interesse an der modernen Psychosomatik und Hirnforschung zu verstärken, wenn er vom Sinn der Sinne spricht und die einzelnen sensorischen Qualitäten schildert. Dabei stellt er keineswegs, wie sonst üblich, die visuelle Wahrnehmung in den Vordergrund. Er beschreibt auch besonders eingehend den Oralsinn, das Riechen und Schmecken. Dieser Oralsinn stiftet eine besondere Atmosphäre, die schon das Kleinkind und eben nicht nur der Weinkenner schätzt. Aber auch das Hören, „was uns zu Ohren kommt“ und das Berühren ist dem Autor wichtig, wenn er menschliche Begegnungen beschreibt. Und es ist schon bemerkenswert, dass wir, wenn wir uns gegenseitig berühren, immer auch spüren, dass wir es sind. Mit anderen Worten: Es ist unmöglich, sich bei dieser Berührung nicht selbst zu spüren.

Was den erfahrenen Arzt und Autor auszeichnet, ist ja sein Sensorium für das, was die Menschen angeht und was ihm selbst nahegeht.

Die reiche Bebilderung und die sorgfältige Begriffserklärung führen von der Phänomenologie zur medizinischen Anthropologie und von der Psychosomatik bis zur Poetik, ein wunderbares Werk. (Marc S. Huf, 5. 5. 2019)

Siehe auch Veranstaltung mit Podium:

Schöne Jugend – der Pathologe Gottfried Benn

Mit dem Gedicht Schöne Jugend spielte Benn auf die Figur der Ophelia an, die gemeinhin als ein zerbrechliches feminines Wesen beschrieben wird und mehr am Jenseits als am Diesseits interessiert zu sein scheint: Sterben, Tod und Leichnam sollten in der Kunst stets ästhetisch ansprechend abgebildet sein. Doch Benn zerstörte das romantische Stereotyp der femme fragile. In neuer, expressionistischer Darstellung bildeten jetzt ekelerregende Autopsie-Befunde einen Kontrast zu den Bildern „schöner“ Wasserleichen:

SCHÖNE JUGEND

Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte,
sah so angeknabbert aus.
Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig.
in einer Laube unter dem Zwerchfell
fand man ein Nest von jungen Ratten.
Ein kleines Schwesterchen lag tot.
Die andern lebten von Leber und Niere,
tranken das kalte Blut und hatten
hier eine schöne Jugend verlebt.
Und schön und schnell kam auch ihr Tod:
Man warf sie allesamt ins Wasser.
Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten!

Er hatte begonnen, seine Erfahrungen aus dem Seziersaal zu verarbeiten, aber sich noch nicht für eine bestimmte medizinische Fachrichtung entschieden, und dann war plötzlich die ruhige Sprechzimmersituation, das Gespräch mit den einfachen Fragen zur Lebensgeschichte der Kranken, für ihn unerträglich geworden. Deshalb scheiterte er schon zu Beginn seiner Tätigkeit an der Psychiatrischen Klinik der Charité. Nach eigenem Bekenntnis versagte er, als er am Krankenbett eine biographische Anamnese erheben wollte:
Mein Mund trocknete aus, meine Lider entzündeten sich, ich wäre zu Gewaltakten geschritten, wenn mich nicht vorher schon mein Chef zu sich gerufen, über vollkommen unzureichende Führung der Krankengeschichten zur Rede gestellt und entlassen hätte.“ ( Ärzte, Dichter und Rebellen S. 152f.)

Lesung

Gottfried Benn – Arzt und Dichter

Gottfried Benn hat sein Doppelleben selbstkritisch betrachtet und festgestellt, die ärztliche Tätigkeit habe ihn „nicht innerlich beschäftigt“. Ganz anders bewertete er sein Dasein für die Kunst, die Poesie, das lyrische Ich. In seiner Rede über Probleme der Lyrik betont er, dass er „nicht nur die Herstellung des Gedichts, sondern auch sich selber“ beobachte. Der Arztschriftsteller ist somit als Mediziner zu verstehen, der poetische Texte herstellt, so wie der Medikus als ein (Wieder-)hersteller von Gesundheit aufgefasst werden kann. Es liegt nahe, einen Autor, zumal den Poeta doctus, der ein Gedicht verfertigt, im ursprünglichen Wortsinn der Poesie nicht als Darsteller, sondern eben als Schriftsteller zu bezeichnen, immer in der Annahme, dass er sich von einer poetischen Vorstellung bis zur Herstellung, d.h. Fertigung von Poesie bewegt.

Gottfried Benn

Benn betont, dass ihm ein Vers nur gelinge, wenn er „den Worten in die Seele“ schaue. Er ersinnt kostbare, nicht nach Weihrauch duftende, sondern in Formalin konservierte und in flüssigen Stickstoff eingelagerte, kalt dampfende Chiffren für die Ewigkeit. Seine Gedichte künden von Vergeblichkeit und Weltekel, aber auch von Rausch und Glück:

Die trunkenen Fluten enden,
als Fremdes, nicht dein, nicht mein.
Sie lassen dir nichts in Händen
als der Bilder schweigendes Sein.

Die Fluten, die Flammen, die Fragen –
und dann auf die Asche sehn:
„Leben ist Brückenschlagen
über Ströme, die vergehn.“

Und:

Du bist so weich, du gibst von etwas Kunde,
von einem Glück aus Sinken und Gefahr
in einer blauen, dunkelblauen Stunde
und wenn sie ging, weiß keiner, ob sie war.


Benn hatte ein Aufsehen erregendes lyrisches Flugblatt verfasst, das von seiner Arbeit als Pathologe zeugte. Die in geringer Stückzahl verbreiteten Morgue-Gedichte machten ihn in der literarischen Welt bekannt. Der Arzt war zum Dichter geworden. Die ersten Zeilen des Gedichts Requiem hatte er im Telegrammstil niedergeschrieben:

Auf jedem Tisch zwei. Männer und Weiber
kreuzweis. Nah, nackt und dennoch ohne Qual.
Den Schädel auf. Die Brust entzwei. Die Leiber
gebären nun ihr allerletztes Mal.


Neuerdings wird betont, dass Benns „medizinische Lyrik“ nicht nur seine Kritik am Gesundheitswesen und dessen unerfüllbaren Heilversprechen ausdrückte, sondern in diesem Kontext auch die menschliche Hinfälligkeit und Vergänglichkeit beklagte, zumal er festgestellt habe, dass „Sanitas“ sich auf „Vanitas“ reime. (Monika Fick: Medizinische Lyrik. Benn-Handbuch.Hanna, Christian M., Reents Friedericke (Hg.). Stuttgart 2016, S. 296). Nach seinen Pathologiestudien gelang es ihm dennoch, „Phänomene des Unvorhersagbaren, Schöpferischen, Entgegensetzlichen“ als spezifisch menschlich (,anthropologisch‘) zu beschreiben. (Ebd., S. 314: Antje Büssgen: Anthropologie). Dieses anthropologische Prinzip ist auch schon für den Arzt Friedrich Schiller der wissenschaftliche Bezug zum „Ästhetischen“ gewesen.

Er wagte es, einen lyrisch strukturierten Bericht über seine Erfahrungen als klinischer Pathologe zu veröffentlichen, obwohl er damit Gefahr lief, das Klischee vom zynischen Mediziner und der Ästhetisierung des Ekels zu erfüllen.

Offenbar verfügen Arztdichter über ein besonderes Sensorium, um das wahrzunehmen, worum es in der Kunst und Medizin geht – und was sie selbst angeht, weil es ihnen nahegeht.