Ein neues Aufgabengebiet eröffnete sich unabhängigen Ärztinnen und
Ärzten auch außerhalb europäischer Grenzen. Darüber berichtet die
Schriftstellerin und Ärztin Inga Wißgott, die zwei Gedichtbände über
Medizinisches und Menschliches und einen Bericht über ihren Einsatz als Chirurgin in Afrikas Krisenregionen
publizierte: Ärztin ohne Grenzen (2009).

Auf die Frage, wie sie auf die Idee gekommen sei, mit den Ärzten
ohne Grenzen nach Afrika zu gehen, antwortete sie, ihre Mutter, selbst Ärztin, habe ihr schon früh von Albert Schweitzer (1875–1965) erzählt, der
sich der Humanität verschrieben und in Afrika ein Spital aufgebaut hatte.
Aus eigenem Antrieb leisten Medizinerinnen und Mediziner vieler Länder
humanitäre Nothilfe für Flüchtlinge auf See, in gefährlichen Situationen
von Krieg und Gewalt, Naturkatastrophen und Epidemien. Seit der Verleihung des
Friedensdoppelpreises an den Arzt und Schriftsteller Albert Schweitzer (1952) wurden
couragierte Mediziner nur selten damit ausgezeichnet, zuletzt die Mitglie-
der der beiden Ärzteorganisationen International Physicians for the Preven-
tion of Nuclear War (1985) und Médecins Sans Frontières (1999).
Der französische Internist und spätere Gesundheitsmininster Bernard Kouchner
(*1939) war von 1971–1977 erster Vorsitzender der MSF und gründete drei Jahre später
die zweite Hilfsorganisation Médecins du Monde (MDM).
Es lohnte sich, Biographien jener Autorinnen und Autoren beizuziehen, die wie
Inga Wißgott und Bernard Kouchner ebenfallsin Afrika für die MSF ärztlich tätig gewesen
sind, zumal die postkoloniale Literatur und damit verbundene Gender-Studien zunehmende Bedeutung für interkulturelle Diskurse gewinnen.
Dazu gehören Alain Dubos (Algerien), Jean-
Christophe Rufin (Tunesien, Eritrea), Vladan Radoman (Biafra) oder auch
Henry Shore (Uganda); Sanitätsoffiziere waren die Autoren Gilbert Schlogel,
JeanPierre Garen (Algerien), Frantz Fanon (Algerien, Ghana) und An-tonio Lobo Antunes (Angola). Sie verfassten kritische Berichte über die
ehemaligen Kolonien wie früher schon der Afrikaforscher, Arzt und
Schriftsteller Mungo Park, der 35jährig anno 1886 im Niger ertrank und der Lyriker
Jan Jakob Slauerhoff (Marokko), der jahrelang als Schiffsarzt
um die Welt fuhr, sowohl an Malaria als auch an Tuberkulose litt und
1936 im 39. Lebensjahr starb; oder auch der Novellist, Lyriker und Mili-
tärarzt Francis Brett Young (Südafrika), der im Sanitätsoffiziersdienst an
Typhus erkrankte wie der Kriminalromanschreiber Arthur Conan Doyle
(Südafrika) und die jeder Infektion und Anfechtung widerstehende „Wüs-
tenärztin“ Harriet Straub (Mali, Algerien, Tunesien), vor allem aber die
afrikanischen Autorinnen und Autoren: Die Kinderärztin Margaret Atieno
Ogola (Kenia), die den Essay Education in Human Love (2002) und den
Roman I swear by Apollo (2003) verfasste, aber auch die AIDS-Prävention
vorantrieb; der Ägypter Alaa Al-Aswani, der sich in den Gruppierungen
Ärzte für den Wandel und Schriftsteller für den Wandel engagierte, ferner
der Arzt, Erzähler und UNBotschafter Davidson Nicol (Sierra Leone, Nigeria)
und sein Landsmann, der Romancier und Arzt Raymond Sarif
Easmon (Sierra Leone), der das skurrile Lustspiel Teurer Vorfahr
und der Chirurg Lenrie Peters (Sierra Leone, Gambia), der mít seinen Gedichten
nichts als die Würde des Menschen einforderte:
That spirit which asks no favour / of the world / But to have dignity.
Diese Forderung stellen auch Verteidiger der Menschenrechte in Nordafri-
ka wie Moncef Marzouki (Tunesien) und die Frauenrechtlerin
Nawal El Saadawi (Ägypten), die bei ihrer ärztlichen Tätigkeit herausfand, was
Krankheit und Armut mit Politik, Macht und Religion zu tun haben:
Das geschriebene Wort wurde mein Akt der Rebellion gegen
Ungerechtigkeit im Namen von Religion oder Macht oder Liebe.