Jan Peter Bremer: Nachhausekommen

Jan Peter Bremer: „Nachhausekommen“: Sie verstehen nicht, wie wir hier leben. Rezension von Hilmar Klute, Süddeutsche Zeitung: „Künstler und Autoren ziehen seit den Siebzigern ins niedersächsische Wendland. Jan Peter Bremer erzählt von ihrem Milieu aus der Perspektive des Künstlerkindes, das er selbst dort war.“

Charakteristische Bauweise im Landkreis Lüchow-Dannenberg, der in den Siebzigerjahren zusehends zum Lebensmittelpunkt von Künstlern, Schriftstellern und Journalisten wurde: ein Rundlingsdorf im Wendland. (Foto: Roland Marske/imago images/imagebroker) Von Hilmar Klute, SZ

Jan Peter Bremer

Sechs Jahre alt ist der Erzähler, als ihn seine Eltern aus dem wilden Berlin der 1970er-Jahre ins dörfliche Gümse des niedersächsischen Wendlands verpflanzen. Nicht nur ist sein imposanter Vater ein erfolgreicher Künstler, auch wird ihr Zuhause ein regelmäßiger Treffpunkt für die Kunst- und Kulturszene der alten Bundesrepublik. Mit dem intellektuellen, politisch links stehenden Milieu der Eltern und dem ländlich-provinziellen Leben des Dorfes im »Zonenrandgebiet« prallen Welten aufeinander, zwischen denen der Junge Orientierung sucht – und schließlich im Schreiben findet.

In einer großen Erinnerungsbewegung schildert Jan Peter Bremer eine Kindheit auf dem Land, seine literarisch meisterhaft erzählte, tragikomisch-berührende Geschichte.

»Jan Peter Bremer erzählt, wie ein kindliches Bewusstsein sich bildet, nämlich sein eigenes, und weil er ein so kluger, eleganter Erzähler ist, ist das unendlich traurig und furchtbar lustig zugleich.« Thomas Hettche

»Mein Kosmos von Jan Peter Bremer ist um ein weiteres Buch bereichert worden: Nachhausekommen. Tragikomisch, berührend, grandios.« Angelika Klüssendorf

Wieder in Berlin: Nicolas Born


Irmgard und Nicolas Born, Peter Handke, Verona 1979 (Foto Isolde Ohlbaum): jetzt ist Nicolas wieder in Berlin.

Wenn ich an Nicolas Born denke, frage ich mich manchmal, warum über seine Gedichte, die doch, auf ihre Weise, ebenso frech, wild und formvollendet sind wie jene seines Freundes Brinkmann, nicht auch so ein Geschrei herrscht wie über die Lyrik des letzteren. Wahrscheinlich aber wird Nicolas Born genauso immer weiter gelesen, aufbewahrt und weitergetragen, doch eben nicht von Leuten, die einen großen Dichter als Bannerträger gegen etwas brauchen und mißbrauchen, sondern von anderen Lesern, schweigsamen,
warten könnenden, die, wenn sie es vermeiden, „Nicolas Born!“ zu schreien, schon wissen, was sie tun. (Peter Handke (1987), in Literaturmagazin, Heft 21, Rowohlt Verlag, 1988).

Sachliche Romanze

Edward Hopper: Nighthawks (1942)

Erich Kästner: Sachliche Romanze

Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.

Sie waren traurig, betrugen sich heiter,
versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wußten nicht weiter.
Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.

Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
Er sagte, es wäre schon Viertel nach Vier
und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.
Nebenan übte ein Mensch Klavier.

Sie gingen ins kleinste Cafe am Ort
und rührten in ihren Tassen.
Am Abend saßen sie immer noch dort.
Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.

Ein Phantomerlebnis. Astrid Kohlmeiers poetische Sensibilität

Phantomschmerz

Astrid Kohlmeier

Ich berühre dich nicht?
Und doch trage ich

Deine Hand an meiner Wange
Dein Gesicht auf meinen Lippen
Deine Tränen auf der Zunge
Ich trage

Deine Stimme in meinem Ohr
Deinen Schweiß auf meiner Haut
Deine Gedanken unter meiner Stirn
Immerfort berührt von dir

Die letzte Zeile: „Immerfort berührt von Dir“ drückt es aus, einen spürbarer Verlust nach der Trennung der Liebenden, wie ein Phantomschmerz. Berühren und Berührtsein in (Überein-)Stimmung von Poetik und Psychosomatik.

Die Stimmung stimmt. Mit diesem Gedicht verkörpert das lyrische Ich im Dialog der Liebenden plastischer als jede eindimensionale (Neuro-)Psychologie eine Reihe dreidimensionaler Objekte. Es sind Organe (Körperteile), die intersubjektiv lebendig, beweglich und noch in der Erinnerung da sind. Wie aber kann der Mensch etwas empfinden, was nicht (mehr) ist? Die Neurophysiologie erklärt das zunächst paradox erscheinende Phänomen:

Nach Verlust einer Gliedmaße stellt sich fast regelmäßig ein Phantomerlebnis ein. Der Amputierte meint anfangs, das Glied sei unversehrt, sodass er sich beispielsweise darauf stützt und zu Fall kommt. Im weiteren Verlauf scheint sich das Phantomglied zu verkürzen. Ein Teil der Verletzten leidet unter intensiven neuropathischen Phantomschmerzen. Neurologen sprechen von Phantomschmerzen, wenn der neuronale Fluss zum kortikalen Areal und zugleich inhibitorische A-Beta-fasern unterbrochen werden. Das sind neuropathische Deafferenzierungsschmerzen, die paradox erscheinen müssen: Nach Amputation wird ein zentral repräsentierter prä- und perioperativer Schmerz in das Phantomglied projiziert. (Duale Reihe Neurologie Stuttgart 2016).

Doch wie kann die Dichterin Astrid Kohlmeier, wunderbar wie der Dichter Jon Fosse, „dem Unsagbaren eine Stimme geben“?

Die neue Phänomenologie erleichtert das Verstehen des paradox erscheinenden Schmerzes, vor allem die Wahrnehmung des nicht existierenden Phantomglieds. Für Jean-Luc Marion ist „Das Erscheinen des Unsichtbaren“ eine wahre Offenbarung. Der erste Anhaltspunkt für die Dynamik seiner phänomenologischen Methode soll „die erotische Reduktion“ sein:
Wenn Liebende eine einzigartige Empfindung oder Erregung spüren und hervorrufen, können auch Künstler, Maler oder Musiker etwas Unsichtbares bzw. Unerhörtes wahrnehmen und zugleich eine neue Empfindung bei anderen auslösen.

Aus neurologisch-anthropologischer Perspektive bedeutet dies, dass sich die taktile Empfindung bei jeder Berührung eines anderen Menschen mit der Selbstwahrnehmung verbindet, zumal niemand einen anderen berühren kann, ohne sich selbst zu spüren. Hier bestätigt sich Viktor von Weizsäckers Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen.

Astrid Kohlmeier: Phantomerlebnis

Amputiert sind nun die
Schwingen meiner Seele
Die deine Gegenwart hat
wachsen lassen

Geblieben sind mir einzig
eine goldene Feder
Und zwei gezackte Narben
auf dem wunden Rücken

Versiegt ist auch der
sanfte Strom
Der mein Boot in zarten
Nächten zu dir getragen hat

Ausgetrocknet ist das karge Flussbett
An dem ich niederkniee
und Tag für Tag um Regen bete

Meine Flügel
und meine Tränenquelle
Sind nun in einer fernen
Zwischenwelt

In der du fortlebst
ohne mich
Ich spüre dich noch und
wie du fehlst

6.10.2023 © A. Kohlmeier

Zeitreise

Wie sehne ich mich danach, rückwärts zu laufen
In der Zeit kleiner und kleiner zu werden
Noch einmal würde ich von der Unschuld kosten
Hineinbeißen in den süßen Apfel des Glücks

Noch einmal wäre ich heil und ohne Narben
Und geborgen an der Brust der Mutter
Noch einmal würde ich Ich-liebe-dich sagen ohne Furcht
Und all meine Tränen in Windeseile vergessen

Noch einmal würde ich aufblühen bei jedem Atemzug
Würde staunen und spielen ohne Ernst und ohne Waffen
Noch einmal wäre ich im Glauben, dass alles gut und möglich ist
Und würde gar nichts wissen von Tod und von Verderben

Noch einmal würde ich niemanden und nichts verloren haben
Und hätte nicht verraten und verletzt
Aber über allem hätte ich noch einmal einen Vater
Und müsste nicht erwachsen wie ich bin an seinem finsteren Grabe stehen

Astrid Kohlmeier 2023