Wie gefährlich ist Poesie?

Wie oft auch vor Risiken gewarnt wird, die von einer „Entgrenzung der Medizin“ ausgehen, so selten stellt sich die Frage nach einer vergleichbaren Gefährdung des Menschen durch Literatur. Welche Sprengkraft hat Poesie?

Eine Karikatur kann tödliche Folgen haben – aber ein lyrischer Vers?

Von Gedichten scheint keine Bedrohung auszugehen, wirken sie doch wegen ihrer meist friedlichen Botschaft und des Gleichmaßes an Rhythmus oder Reim eher wohltuend und beruhigend. Dagegen konnte ein Freiheitsdrama in der Sturm und DrangZeit nicht nur Aufregung, sondern auch Aufruhr hervorrufen. So berichtete ein Zeuge über die Uraufführung von Friedrich Schillers Schauspiel Die Räuber am 13. Januar 1782:

            Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende            Füße, heisere Aufschreie im Zuschauerraume! [1]

Als Folge dieser Aufführung bildeten sich im Süddeutschen kleine Räuberbanden. Nicht minder riskant wirkte sich damals ein Prosatext aus: Für die fatale Nachwirkung eines viel gelesenen Liebesbrief-Romans[2] wurde der Begriff Werther-Effekt geprägt. Damit wird auch vor der Ansteckung mit dem nach wie vor virulenten „Werther-Fieber“ und der damit verbundenen realen Suizidgefahr gewarnt.
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[1] Vgl. Peter-André Alt: Friedrich Schiller. Leben – Werk – Zeit. München 2000, S. 282.

[2] Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers (1774).

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Justinus Kerner,
schwäbischer Arztdichter

Die politischen Gedichte, angefangen von den Lob- und Preisliedern, über Klagelieder bis hin zu den gewagten Gesängen der Barden, gingen oft mit dem Kalkül einher, die Gunst einer Dame oder eines Herrschers zu erwerben. Umso mehr mag die fatale Wirkung eines Verses aus der Zeit der deutschen Romantik überraschen:

Justinus Kerner, der schwäbische Arztdichter, der in der Biedermeierzeit ebenso unerschrockenwie erfolgreich mit dem dem stärksten aller natürlichen Gifte (Botulinumtoxin) experimentiert hatte, geriet eines Tages in panische Angst und wollte sogar das Land verlassen, als er erfuhr, welche Gefahr von einer einzigen seiner klingenden Metaphern ausgegangen war. Er hatte mit einem trefflichen Vers, wenn auch „etwas kühn“, wie er bekannte, seine Zeitgenossen bei Hofe als „goldbordierte Knechte“ karikiert.[1]  Fortan musste er wie viele Satiriker befürchten – und das war wohl noch nie ein reiner Wahn, –  von staatlichen Stellen überwacht zu werden. Besonders bemerkenswert ist, dass seine rege Forschungsarbeit auch zur Ablenkung der Geheimpolizei diente, weil medizinische Schriften den Argwohn der Zensoren weniger erregten als die „gefährliche Poesie“.[2] 

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[1] Zum Oxymoron „goldbordierte Knechte“ vgl. Friedrich Pfäfflin (Hg.): „Das Schattenspiel kann ich in Wahrheit nicht vollenden…“Justinus Kerner 1786-1862. Marbacher Magazin 39, 1968, S. 16.

[2] Ebd. S. 17.