Alfred Döblin – Arzt und Dichter I

Die  expressionistischen  Dichter  Alfred  Döblin  
(„Berlin  Alexanderplatz“)  und  Gottfried  Benn  („Morgue-Zyklus“)  gelten  heute  als 
 bedeutende Vertreter der literarischen Moderne. Sie kämpften als Ärzte und Dichter gegen die Vanitas.

Nach  Sigmund  Freud  (1856–1939)  ist  Vergänglichkeit  keineswegs  mit  der  Entwer- 
tung des Schönen verbunden, sondern im Gegenteil als „Wertsteigerung“ aufzufassen.   Bei der Betrachtung der bildendenden Kunst und Literaturwird  das  Fazit  seiner  Studie  über  Das  Unbehagen  in  der  Kultur    durch  einen Vers aus Friedrich Schillers Ballade 
Der Taucher gemildert: 

Es freue sich, wer da atmet im rosigen Licht. 

Auf  diese  Ballade  berief  sich  auch  Alfred  Döblin  (1878–1957):  In  beson- 
ders kritischen Situationen seines Lebens habe er sich daran erinnert, weil 
dem Bericht des Tauchers über die Gefahr, in einen Strudel zu geraten, ein 
hoffnungsvoller Vers auf dem Fuß folge:  

Doch es war mir zum Heil, es riss mich nach oben. 

Döblin gehörte  zu den  wenigen  Arztdichtern  der  Moderne,  die  offenbar 
so gottesfürchtig wie die Barocklyriker waren und sich anscheinend auch vor keinem Menschen fürchteten. Er bekannte freilich, dass es ihm unter

seinem  eigenen   psychotherapeutischem  Blick manchmal  „ganz  bänglich“   geworden  sei; man  könne  eben  keine  „wirkliche  Autobiographie“   schreiben, also  nicht  zugleich  derjenige,  „der  in  den  Spiegel  schaue,     und  der  Spiegel“  sein.

Die nur in der Phantasie existierenden Vorgänge, von denen nur ein Pseudo-loge  fest  überzeugt  ist,  entsprechen  den  Konfabulationen  der  Alkoholkranken,  die  
Alfred  Döblin  in  seiner  Dissertation  über das Korsakow-Syndrom beschrieb.  In  diesen 
Täuschungssituationen  kann  Klarheit  nur  durch  große  Umsicht,  Auf- merksamkeit und geschärfte Wahrnehmung gewonnen werden.  

Nach Döblin ist eine wichtige Voraussetzung der Dichtkunst ein „übernormal scharfes Sehen“.   Denn ein Schriftsteller wie er be-trachtet  die  Dinge  nicht  einäugig  aus  einem  Winkel,  sondern 
mehrperspektivisch  und  stereoskopisch;  er  kann  daher  Gegen- 
stände  dreidimensional  beschreiben.  Die  Lektüre  seiner  Texte 
vermittelt – wie bei einem Blick aus dem Fenster bei einer Fahrt 
durch  eine  Landschaft  –  den  Eindruck,  dass  die  räumlich  wahr- 
nehmbaren Dinge vor einem Hintergrund stehen: ein Baum vor 
dem Fluss, eine Burg auf dem Berg am Horizont. Je weiter ent- 
fernt, desto bläulicher erscheinen die kulissenartigen Hügel. Der 
Abstand eines Gegenstandes von seinem Hintergrund wird um- 
so  deutlicher  sein,  je  schärfer  das  Sehen  und  je  genauer  die  Re-  zeption des räumlichen Eindrucks ist.  

•     Es entsteht Dreidimensionalität, wenn zum Beispiel in der Vorstellung
 anschauliche  Abbilder  von  Lebewesen  erscheinen:  das  Wild im Wald.
 Nach einem Augenblick des Stillstands ist zu er warten,  dass die Tiere zwischen den Bäumen hervortreten. Diese Bewegung  fesselt  die  Wahrnehmung.  

Döblin hatte auch die originelle Hypothese aufgestellt: „Das gefährlichste 
Organ  des  Menschen  ist  der  Kopf“.    Schon  während  des  Medizinstudi-  
ums schrieb er eine satirische Kopf-ab-Geschichte:   

Sein Arm hob sich, das Stöckchen sauste, wupp, flog der Kopf ab. 
Der Kopf überstürzte sich in der Luft, verschwand im Gras.
((Die  Ermordung  einer  Butterblume  und  andere  Erzählungen.  München 1913).


Als Döblin den berühmten Autor des Stücks Reigen (1921) in einer zuge- 
spitzten Theaterkritik förmlich aufspießte und „Arthur der Zerschnitzler“ nannte, 
bezog er sich auf die Dichtkunst des Wiener Kollegen, den er aber 
als Urheber der von ihm selbst angewandten Methode des inneren Mono-logs bewunderte. Döblin folgte zwar durchaus den von Schnitzler im Wiener 
Milieu  der  Jahrhundertwende  aufgenommenen  Spuren  des  vorbewussten  Denkens;  
er  favorisierte  jedoch  den  breiten  Bewusstseinsstrom,  der  später 
vor allem seinen Berliner Großstadtroman durchflutete. Mit der Umdeu- 
tung  des  Namens  kritisierte  er  Schnitzlers  dramatische  und  narrative  

Technik  insofern,  als  diese  nach  seiner  Auffassung  eine  Trennung  von 
Erotik und Sexualität bewirkt habe; er bezog sich also nicht etwa auf dessen 
pathologisch-anatomische Fertigkeiten, vielmehr schätzten beide, der 
Berliner  wie  der  Wiener  Dichter,  nicht  nur  die  Zergliederung  der  Um-gangssprache zugunsten des inneren Monologs, sondern auch den Nutzen 
autoptischer Studien zur Erforschung der Körperfunktionen: 


Das psycho logische  wie  das  sezierende  Handwerk  der  schreibenden – 
Nervenärzte  zeigte sich in der Erzählkunst, in der Sprache und vor allem
in der Erforschung sprachlicher Leistungen. 

Dies fand einen besonderen Ausdruck darin, dass der Wiener Neuro- 
loge Sigmund Freud – kurz bevor er die Psychoanalyse erfand – eine große Zahl 
von Hirnsektionen vorgenommen hatte, um einen neuen Zugang zu 
den  Sprachregionen  und  Sprachfunktionen  zu  eröffnen.  Anhand  seiner 
kritischen  Studie  über  Aphasien  (1891)     war  es  möglich, die  funktionel- len Bilder kortikaler Sprachareale zu interpretieren und eine darauf grün- 
dende,  von  neurobiologischer  Seite  verfochtene  Hypothese  zu  prüfen:  

Nicht  nur  die  Sprache  und  Sensomotorik,  Wahrnehmungen  und  Bewe- 
gungen,  sondern  auch  die  seelischen  Regungen  sind  an  Hirnfunktionen  gebunden. 
Nun war kaum mehr außer Acht zu lassen, dass nicht nur das 
Gehirn,  vor  allem  die  Sprach-  und  Wahrnehmungsareale,  zunehmend 
wichtige  Forschungsobjekte  –  und  darüber  hinaus  Döblins  Biberkopf 
ebenso wie Schillers  Schädel  interessante  Untersuchungsgegenstände  der 
Literaturwissenschaft – geworden waren, sondern es wurde auch bedacht,  dass  zur  Wissenschaft  vom  Menschen  der  gesamte  Körper  gehört.

Alfred Döblin

Alfred Döblin, Arzt und Dichter II

Am Übergang von der Belle Époque in die Moderne fand eine neue kulturelle Aufwertung der Städte Wien und Weimar statt. So sprach man von der Wiener Moderne und nach dem Ende der Wilhelminischen Ära von der Weimarer Republik. Verglichen mit diesen epochalen Begriffen beschrieb Alfred Döblins Romantitel Berlin Alexanderplatz (1929) zwar nur den kleinen Teil einer großen Stadt, aber doch einen für die Weimarer Zeit charakteristischen Ort lebhaften und lauten kulturellen Lebens.
Alfred Döblin (1878-1957), der in Berlin an der Charité studierte und sowohl nervenärztlich als auch internistisch tätig war, gilt als Wegbereiter der modernen Prosa im 20. Jahrhundert.
Er wurde in Stettin als viertes Kind des Ehepaars Max und Sophie Döblin geboren, die gemeinsam ein Schneideratelier führten. Die Eltern trennten sich, als er zehn Jahre alt war, und der Vater wanderte in die USA aus. Die Mutter sah in dem talentierten, trotzigen und keineswegs erfolgreichen Schüler keinen künftigen Schriftsteller, sondern eher einen Zahnarzt. Wie viele Arztdichter, die den elterlichen Rat teilweise befolgten, fügte er sich. An der Charité hörte der von der Medizin „faszinierte“ Student die letz- 
ten  Vorlesungen  von  Rudolf  Virchow  (1821–1902)  und  Ernst  von  Berg-mann (1876–1907);  er bestand das ärztliche Abschlussexamen (1904) und 
verfasste  während  seiner  kurzen  Tätigkeit  an  der  Freiburger  Universität  eine
 Dissertation über die alkoholbedingte Demenz (1805),  die durch ein 
amnestisches  Syndrom  mit  Konfabulationen  gekennzeichnet  ist:  

In  diesem Fall werden größere Erinnerungslücken – weit mehr als allgemein üb- 
lich  –  durch  phantastische  Einfälle  ersetzt.  Die  neuen  psychologischen 
Erkenntnisse  waren  geeignet,  sein  Interesse  an  der  Poesie  zu  verstärken, 
da  er  folgerte,  dass  das  Erinnern,  Vergessen  und  Konfabulieren  sowohl 
 zur Struktur psychotherapeutischer als auch kreativer Prozesse gehörte.  
         Von  1906  -1908  war  Döblin  Assistenzarzt  an  der  Irrenanstalt  Buch  
und  anschließend  am  UrbanKrankenhaus  in  Berlin  tätig.  1912  feierte  er 
Hochzeit mit der Medizinstudentin Erna Reiss (1888–1957). 

Sein Durchbruch  als  Schriftsteller  war  der  historische  Roman  
über  den  chinesischen Rebellen Wang- lun (1916).    Während  des  militärärztlichen  Dienstes  in  Elsass-Lothringen begann er mit der Arbeit an dem polyphonen Prosatext 
Wallenstein,  in  dem  er  nicht  nur,  wie  einst  Friedrich  Schiller,  „dreißig  jammervolle 
Kriegsjahre“  beklagte, sondern – aufgrund eigener Erlebnisse an  der  Westfront  –  auch  die  Absurdität  aller  großen  Kriege  darstellte,  in 
denen  Leben  von  Abermillionen  Menschen  um  ökonomischer  Vorteile  willen geopfert werden.  Seine Romane waren, wie ein Chronist es formulierte, „Gegenentwürfe“ gegen die Hybris des wilhelminischen Kaiserreichs, gegen die Ver- 
götzung ‚großer Männer‘, gegen die Verherrlichung des Krieges  und gegen einen ökologisch ignoranten Technik-Optimismus.  (Klaus Müller-Salget 2005).

In  dem  Roman  Berlin  Alexanderplatz  (1929)  fließt  zwischen  kunstvoll 
montierten  Passagen  die  erlebte  Rede,  der  stream  of  conciousness  
des  Großstädters, dem die Ursache allen Übels – immer erst wenn es zu spät 
ist  –  in  einem  einzigen  Satz  bewusst  wird:  „Das  viele  Trinken“. 
Es  geht  um  Mord  und  (Über-)leben  in  Berlin:  Franz  Biberkopf  hat  seine  treulose 
Freundin  Ida  erschlagen.  Nach  der  Haftentlassung  sucht  der  reuevolle  
Antiheld ohne Umschweife eine Prostituierte auf; dieses Unterfangen wird 
mit  ungewöhnlichen  stilistischen  Mitteln,  d.h.  mit  einer  in  den  Erzähltext 
eingefügten  Börsenmeldung  kommentiert:  „Tendenz  lustlos,  später  Kurs- 
rückgänge.“   Biberkopf  will  künftig  anständig  bleiben,  ist  aber  verführbar  und  wird  zum  Einbrecher  und  Zuhälter,  zuletzt  aber  zum  Insassen  und  Hilfsportier der 
Irrenanstalt Buch. Seiner Besserung folgt die Bekehrung in 
religiöser Verklärung.  

         Nach  dem  Reichstagsbrand  vom  27. 2. 1933  emigriert  Alfred  Döblin 
über  die  Schweiz  nach  Paris  und  wird  drei  Jahre  später  französischer  Staatsbürger.  
1940  flieht  er  vor  den  deutschen  Truppen  in  die  USA.  In 
Hollywood  arbeitet  er  als  Drehbuchautor.  Erst  nach  dem  Zweiten  Welt-krieg  erfährt  er,  dass  sich  sein  Sohn  Wolfgang  in  Frankreich  das  Leben 
genommen  hat.  1949/1950  erscheint  sein  Roman  November  1918.  Eine 
deutsche  Revolution.   1953  kehrt  er  nach  Paris  zurück,  lebt  dort  isoliert,  
krank und verarmt. Am 26. Juni 1957 stirbt er 78-jährig im Verlauf einer 
Parkinson-Krankheit in der Nervenklinik Emmendingen.  

Alfred Döblin (Porträt E.L. Kirchner 1912)