

Einen philosophisch-reflexiven Zugang zum Alltag und zur Natur wählt der deutsche Autor Ulrich Koch in seinem Band „Dies ist nur ein Auszug aus einem viel kürzeren Text“. (…) Leben und Schreiben verschmelzen und durchdringen osmotisch die Wahrnehmungs- und Gedankenwelt, weil die eine in die andere hinüberfließt. „Wir sind nie verloren ohne Rettung, / solange wir schreiben, verloren, um Rettung.“ (…) Das Staunen (thaumazein) mündet hier in einen Modus der Selbstvergewisserung. (…) Und weil die „Zeit nie unpünktlich“ ist und „geduldig auf die nächste Sekunde“ wartet, „in der sie vergeht“, wird auch die „Sehnsucht“ zur „exaktesten Wissenschaft“.
(Maria Renhardt, Die Furche vom 14.09., Sammelbesprechung zu Bänden u.a. auch von Sabine Gruber und Michael Krüger)
Ein neues Aufgabengebiet eröffnete sich unabhängigen Ärztinnen und
Ärzten auch außerhalb europäischer Grenzen. Darüber berichtet die
Schriftstellerin und Ärztin Inga Wißgott, die zwei Gedichtbände über
Medizinisches und Menschliches und einen Bericht über ihren Einsatz als Chirurgin in Afrikas Krisenregionen
publizierte: Ärztin ohne Grenzen (2009).
Auf die Frage, wie sie auf die Idee gekommen sei, mit den Ärzten
ohne Grenzen nach Afrika zu gehen, antwortete sie, ihre Mutter, selbst Ärztin, habe ihr schon früh von Albert Schweitzer (1875–1965) erzählt, der
sich der Humanität verschrieben und in Afrika ein Spital aufgebaut hatte.
Aus eigenem Antrieb leisten Medizinerinnen und Mediziner vieler Länder
humanitäre Nothilfe für Flüchtlinge auf See, in gefährlichen Situationen
von Krieg und Gewalt, Naturkatastrophen und Epidemien. Seit der Verleihung des
Friedensdoppelpreises an den Arzt und Schriftsteller Albert Schweitzer (1952) wurden
couragierte Mediziner nur selten damit ausgezeichnet, zuletzt die Mitglie-
der der beiden Ärzteorganisationen International Physicians for the Preven-
tion of Nuclear War (1985) und Médecins Sans Frontières (1999).
Der französische Internist und spätere Gesundheitsmininster Bernard Kouchner
(*1939) war von 1971–1977 erster Vorsitzender der MSF und gründete drei Jahre später
die zweite Hilfsorganisation Médecins du Monde (MDM).
Es lohnte sich, Biographien jener Autorinnen und Autoren beizuziehen, die wie
Inga Wißgott und Bernard Kouchner ebenfallsin Afrika für die MSF ärztlich tätig gewesen
sind, zumal die postkoloniale Literatur und damit verbundene Gender-Studien zunehmende Bedeutung für interkulturelle Diskurse gewinnen.
Dazu gehören Alain Dubos (Algerien), Jean-
Christophe Rufin (Tunesien, Eritrea), Vladan Radoman (Biafra) oder auch
Henry Shore (Uganda); Sanitätsoffiziere waren die Autoren Gilbert Schlogel,
JeanPierre Garen (Algerien), Frantz Fanon (Algerien, Ghana) und An-tonio Lobo Antunes (Angola). Sie verfassten kritische Berichte über die
ehemaligen Kolonien wie früher schon der Afrikaforscher, Arzt und
Schriftsteller Mungo Park, der 35jährig anno 1886 im Niger ertrank und der Lyriker
Jan Jakob Slauerhoff (Marokko), der jahrelang als Schiffsarzt
um die Welt fuhr, sowohl an Malaria als auch an Tuberkulose litt und
1936 im 39. Lebensjahr starb; oder auch der Novellist, Lyriker und Mili-
tärarzt Francis Brett Young (Südafrika), der im Sanitätsoffiziersdienst an
Typhus erkrankte wie der Kriminalromanschreiber Arthur Conan Doyle
(Südafrika) und die jeder Infektion und Anfechtung widerstehende „Wüs-
tenärztin“ Harriet Straub (Mali, Algerien, Tunesien), vor allem aber die
afrikanischen Autorinnen und Autoren: Die Kinderärztin Margaret Atieno
Ogola (Kenia), die den Essay Education in Human Love (2002) und den
Roman I swear by Apollo (2003) verfasste, aber auch die AIDS-Prävention
vorantrieb; der Ägypter Alaa Al-Aswani, der sich in den Gruppierungen
Ärzte für den Wandel und Schriftsteller für den Wandel engagierte, ferner
der Arzt, Erzähler und UNBotschafter Davidson Nicol (Sierra Leone, Nigeria)
und sein Landsmann, der Romancier und Arzt Raymond Sarif
Easmon (Sierra Leone), der das skurrile Lustspiel Teurer Vorfahr
und der Chirurg Lenrie Peters (Sierra Leone, Gambia), der mít seinen Gedichten
nichts als die Würde des Menschen einforderte:
That spirit which asks no favour / of the world / But to have dignity.
Diese Forderung stellen auch Verteidiger der Menschenrechte in Nordafri-
ka wie Moncef Marzouki (Tunesien) und die Frauenrechtlerin
Nawal El Saadawi (Ägypten), die bei ihrer ärztlichen Tätigkeit herausfand, was
Krankheit und Armut mit Politik, Macht und Religion zu tun haben:
Das geschriebene Wort wurde mein Akt der Rebellion gegen
Ungerechtigkeit im Namen von Religion oder Macht oder Liebe.
Ein Essay mit dem Titel Fachleute für menschliche Leiden weist bereits
im Untertitel auf die Grenzenlosigkeit des Arzt-Dichter-Diskurses hin:
Anmerkungen zu einem Thema ohne Grenzen
Der Arzt und die Literatur oder
Die Rebellion gegen die Vergänglichkeit.
(Reich-Ranicki, Marcel: Herz, Arzt und Literatur. Zwei Aufsätze. Zürich:
Ammann Verlag, 3. Aufl. 2007)
„Ohne Arthur Schnitzler, Alfred Döblin und Gottfried Benn – dies
ist keineswegs übertrieben – lässt sich die moderne deutsche Lite-
ratur überhaupt nicht mehr denken.“
Dies ist der Moment, da der Arzt, Dichter und Rebell als Figur auf der
inneren Bühne des Publikums erscheint. Zunächst bewegt er sich zwar
noch zwischen Literatur und Medizin, überquert dann aber die Grenzen
in vielerlei Hinsicht: als Forscher und Entdecker, Abenteurer oder Soldat
und als flüchtender Rebell, wie zum Beispiel Friedrich Schiller, Georg
Büchner und Alfred Döblin. Einige Arzt-Dichter schildern ihre Konflikte
und Krisen, die wie Grenzsituationen oder auch gelegentlich wie Grenzer-fahrungen anmuten, vor allem Arthur Schnitzler und Gottfried Benn.
Auf dem interdisziplinären Symposium Literatur und Medizin (2004)
Klara Obermüller: Der Mensch in seiner ganzen Schwäche. In: Literatur und
wurde die Auffassung vertreten, es sei sicher mehr als ein Zufall, dass
„drei der bedeutendsten Schriftsteller der deutschsprachigen Moderne“ –
Schnitzler, Döblin und Benn – „von Haus aus“ Mediziner waren; denn sie
hätten aus eigener Anschauung gewusst, was Krisen sind:
„Denn die Fähigkeit zur feinen Selbstwahrnehmung, der analytische
Blick, der Menschen und Gesellschaften gleichermaßen durch-
schaut, die Vertrautheit im Umgang mit Gedanken und Träumen –
das alles sind Voraussetzungen, die sowohl dem Arzt wie dem
Schriftsteller zugutekommen.“
Medizin. Peter Stulz, Frank Nager, Peter Schulz (Hg.) Zürich 2005, S. 242.
Das Wissen hat Grenzen, das Denken nicht. (ALBERT SCHWEITZER)
Rebellion gegen die Vergänglichkeit.
Schreibende Ärzte und Ärztinnen ohne Grenzen
Am Anfang des Diskurses steht die Überlegung, unter welchen Voraus-
setzungen Medizin und Dichtung eine Verbindung eingehen können.
Bei dem Versuch, das Dickicht medizinhistorischer Bibliotheken zu durch-dringen und das Geflecht der literaturwissenschaftlichen Überlieferungen,
Sagen und Mythen zu durchbrechen, stößt man auf Archive, in denen
Ärzte und Dichter getrennt voneinander aufbewahrt werden, so als hätten
sie dort schon zu Lebzeiten reaktions- und beziehungslos geruht oder wie
Kaiser Barbarossa Jahrhunderte verschlafen.
Warum es so wenige bekannte Ärzte und Dichter in Personalunion
gibt, erklärt sich wahrscheinlich daraus, dass der sogenannte Arzt-Dichter erst vor einem halben Jahrhundert entdeckt wurde. Bis zu diesem Zeit-
punkt gab es anscheinend auch keine Dichterin, die zugleich Ärztin war.
Stattdessen wird regelmäßig die heilkundige Ordensfrau Hildegard von
Bingen als erste Zeugin für das Gelingen der Allianz von Medizin und
Poesie im Mittelalter aufgerufen. Von einem gelehrten Mönch des
10. Jahrhunderts, genannt Notker der Arzt oder Notker der Dichter, ist wenig,
nicht einmal das Geburtsdatum bekannt. In der Renaissance-Literatur begegnet man dem Ordensmann, Arzt und Dichter Francois de Rabelais
(geboren 1483 oder 1494), jenem berühmten Wortkünstler, der sich in seiner vierten bzw. gfünften Lebensdekade für die Ausübung der Heilkunde entschieden hatte. Er soll wegen seiner satirischen und ketzerischen Schriften gelegentlich gescholten, verboten und eingesperrt worden sein. Die Plaisanterie rabelaisienne, sein freimütig derber Witz, wird heute noch geschätzt. Von Zeit zu Zeit wirkten noch heidnische Götter mit: Apollon und Eros. Das apollini-
sche Zusammenspiel von Medizin und Poesie war in der frühen Neuzeit ein
Glücksfall. Doch der Einfluss des Liebesgottes auf den „medicus poeta“
überdauerte die Jahrhunderte. Dies belegen Gedichte von Paul Fleming und Johann Christian Günther, Friedrich Schiller und John Keats.
Wie oft auch vor Risiken gewarnt wird, die von einer Entgrenzung der Medizin
ausgehen, so selten stellt sich die Frage nach einer vergleichba-
ren Gefährdung des Menschen durch Literatur. Welche Sprengkraft hat Poesie?
Eine Karikatur kann tödliche Folgen haben – aber ein lyrischer Vers?
Seit Urzeiten ermuntern Gedichte und Lieder die Menschen zum Feiern
und Trinken, besonders, wenn Musikanten zum Tanz aufspielen. Das vor-herrschende Lebensgefühl kann von der Einsicht in die Vergänglichkeit
des Schönen oder von Freiheitssinn und Aufbegehren gegen die Obrigkeit
bestimmt sein, aber auch von revolutionärem Elan zu resignativer
und fatalistischer Lethargie wechseln.
Doch die nüchternen Erwartungen der Ärzte und Ärztinnen an ein Dichterleben,
ihre kreativen Phasen und Krisen (5. Kapitel), schlagen gelegent-
lich in pure Lebenslust um, vor allem wenn das Dasein erotisch aufgeladen
ist. Die im letzten Jahrhundert gegen den Wind gesungenen
Protestlieder, wie zum Beispiel The Times They are A-Changin,
wurden durch den Literaturnobelpreis 2016 veredelt. Es sind aber nicht nur Lied-
texte, sondern auch Sprechgesänge, Poetry Slam-Vorträge und ganz text-
freie Techno-Rhythmen, die derzeit Menschenmengen in Rauschzustände
versetzen. Abertausende Jugendliche harren dicht beieinander aus, halten
sich aufrecht – in endloser Standing Ovation – und recken die Arme bis
hinauf zu den Pop– und Punk-Rockern oder Hip-Hop-Rappern:
I stand here, a manifestation of love and pain,
With veins pumping revolution.
Ganz anders verhält sich das in großen Konzerthallen sitzende ältere Pub-
likum. Es klatscht und nickt im Viervierteltakt volkstümlicher Musik, ein
wirklich harmloses Vergnügen.
Doch die Dichter pflegten gewiss nicht nur den Gesang von Nachti-
gallen und Schwänen einzufangen oder Rosenduft, Sternenglanz und
Rauscherlebnisse in ästhetische Formen zu gießen, sondern schreckten
auch nicht davor zurück, Zorn, Wut und Empörung mit viel Ironie und
Sarkasmus, wenn auch metaphorisch verhüllt und kunstvoll verziert, in Worte zu fassen.
Umso mehr mag die fatale Wirkung eines Verses aus der Zeit der deutschen
Romantik überraschen:
Justinus Kerner, der schwäbische Arztdichter, der ebenso unerschro-
cken wie erfolgreich mit dem stärksten aller natürlichen Gifte (Botulinum-Toxin)
experimentiert hatte, geriet eines Tages in panische Angst und wollte
sogar das Land verlassen, als er erfuhr, welche Gefahr von einer einzigen seiner
klingenden Metaphern ausgegangen war (8. Kapitel). Er hatte mit
einem trefflichen Vers, wenn auch „etwas kühn“, wie er bekannte,
seine Zeitgenossen bei Hofe als „goldbordierte Knechte“ karikiert. Fortan
musste er wie viele Dichter befürchten – und das war wohl noch nie ein
reiner Wahn, – von staatlichen Stellen überwacht zu werden. Besonders
bemerkenswert ist, dass seine rege Forschungsarbeit auch zur Ablenkung
der Geheimpolizei diente, weil medizinische Schriften den Argwohn der
Zensoren weniger erregten als die „gefährliche Poesie“.
Drei Mediziner, die als Dramatiker hervortraten, Friedrich Schiller (1759–
1805), Georg Büchner (1813–1837) und Arthur Schnitzler (1862-1931)
können die Richtung des Diskurses anzeigen: Auf der Suche nach Spuren
der Psychosomatik in der Literatur finden sich wegweisende Texte dieser Dichter.
Sie hatten im Umgang mit kranken Menschen psychologische
Einblicke in das dynamische Dreiecksverhältnis von Körper, Geist und Umwelt
gewonnen. Schiller und Büchner verfassten ihre ersten Dramen
jeweils in der letzten Dekade vor den großen Revolutionen von 1789 bzw.
1848. Schnitzler debütierte etwa 100 Jahre nach Schiller und 50 Jahre nach
Büchner mit Dramen- und Prosatexten, als er – synchron mit dem Auf-
takt der Psychoanalyse – traumartige Gedankenflüge in die Literatur un- ternahm und den inneren Monolog für die deutsche Sprache entwickelte.
»Schreiben bedeutet Spielen mit den Murmeln der Fantasie.« (Bettina Schott)
Ich, meine Gedichte und Italien
schreiben als antwort aufs schweigen
Menschen und ihre Technologien im Einklang