4 von 7 Jahrzehnten des Rainald Goetz

Ein Höhepunkt des Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Literatur-Wettbewerbs von 1983 war der Beitrag des 31-jährigen Psychiaters Rainald Goetz. David Hugendick schrieb über Goetz im Blick auf dessen ersten  Roman  „Irre“ (1983) und die Novelle Georg Büchners:  Wenn Büchners Lenz im Gebirge verrückt wird, dann ist Rainald Goetz der Lenz in der Großstadt, der versucht, nicht irre zu werden. Wobei hier überhaupt die Frage ist, wer irre ist, wer ist drinnen und wer draußen, wer ist Insasse und wer nicht.    Rainald Goetz verkörperte bei dem Klagenfurter Wettbewerb mit einer rhythmisch und gestenreich vorgetragenen Rede die Rebellion gegen die mediale Kultur im Allgemeinen und den Literaturbetrieb im Besonderen. Dabei verausgabte er sich und verletzte sich sogar auf überraschende Weiseselbst.  Er fügte sich mit einer Rasierklinge einen oberflächlichen Schnitt an der Stirn zu. Blut tropfte auf sein Vortragsmanuskript Subito, während er gleichzeitig sagte:   Ich schneide mir ein Loch in meinen Kopf, in die Stirne schneide ich das Loch, mit meinem Blut soll mir das Hirn auslaufen.  Das Publikum applaudierte verhalten, die meisten Juroren verharrten in Indifferenz:  ein Spektakel, das anscheinend weder Lob noch Tadel und erst recht keinen Preis verdiente.  Einer der anwesenden Kritiker meinte, Goetz habe sich mit seinem lebhaften Angriff gegen die herrschendeLiteratur als typischer Literat entlarvt. Die demonstrative Selbstverletzung erregte in den Medien Aufsehen und Abscheu. Hatte der Autor nicht vom Sinn des Blutvergießens im Zusammenhang mit Terrorismus gesprochen? Goetz bekannte freimütig:  Und weil ich kein Terrorist geworden bin, deshalb kann ich bloß in  mein eigenes weißes Fleisch hineinschneiden. Angesichts der real blutenden Wunde schien die Einordnung des provo- kanten Textes in die Gegenwartsliteratur nicht möglich zu sein. Zweifellos war die frische Blessur an der Stirn als Folge der performativen Selbstverletzung etwas grundlegend anderes als die von Gottfried Benn beschriebene Wunde: Im Jahr 1912  hatte der ebenfalls noch unbekannte Arztdichter die Trauer nach dem Tod seiner Mutter in Verse gefasst:  Ich trage dich wie eine Wunde auf meiner Stirn, die sich nicht schließt.  Nach dem Erscheinen von zwei Bänden über Psychiatrie und Revolution: Hirn und Krieg  (1986)  und einem Buch über Sprache:  Festung (1993) wurde er weithin bekannt.  1998  verfasste er das Stück Jeff Koons und die Erzähltexte Rave, 1999 Celebration (90s  NachtPop) und den Roman Abfall für alle, 2000 die Erzählungen Dekonspiratione und Heute Morgen, fer- ner Jahrzehnt der schönen Frauen (2001), den Tagebuchessay und Weblog Klage und den Bericht  Loslabern (2008), auch im Audioformat und den Photoband Elfter September  (2010), ferner den Roman  Johann  Holtrop (2012).  Kaum  ein  zeitgenössischer  deutschsprachiger  Autor  hat  so  artis- tisch mit immer neuen Wörtern, Lauten und Tönen jongliert, während er kaum die eigene Balance auf dem Seil halten konnte, das er zwischen der psychologischen  Medizin  und  der  schönen  Literatur  ausgespannt  hatte.     Die Kultur sei für ihn  zwar,  wie  er  schrieb,  sein  Leben,  nicht jedoch  die Kultur im engeren Sinn, das „peinliche“ Theater und die „langweilige“ Literatur,  die  er  nur  noch  mit  seinen  „sehr  gespitzten,  genuß-verwöhnten,   handschuhweißeleganten Fingern“ anfasse.   Der  Arztdichter  mit  der  Punkfrisur  konnte  manchmal,  von  fern  be- trachtet,  an  den  Struwwelpeter  aus  der  Feder  seines  Kollegen Heinrich Hoffmann erinnern.  Während  der  Berliner  Poetikvorlesung  (2012)  und  anlässlich öffentlicher Ehrungen, vor allem bei den Verleihungen des Schiller- Gedächtnispreises  (2013)  und  des  Büchner-Preises  (2015),  gestikulierte  er so  lebhaft  wie  jeder  leicht  hyperaktive Angehörige  seiner  Altersgruppe und  verkörperte  damit  in  der  Rebellengeneration  den  erwachsenen  Puer robustus.  (aus: Ärzte, Dichter und Rebellen, Würzburg 2018, 241f.)