Wie oft auch vor Risiken gewarnt wird, die von einer Entgrenzung der Medizin ausgehen, so selten stellt sich die Frage nach einer vergleichba- ren Gefährdung des Menschen durch Literatur. Welche Sprengkraft hat Poesie? Eine Karikatur kann tödliche Folgen haben – aber ein lyrischer Vers? Seit Urzeiten ermuntern Gedichte und Lieder die Menschen zum Feiern und Trinken, besonders, wenn Musikanten zum Tanz aufspielen. Das vor-herrschende Lebensgefühl kann von der Einsicht in die Vergänglichkeit des Schönen oder von Freiheitssinn und Aufbegehren gegen die Obrigkeit bestimmt sein, aber auch von revolutionärem Elan zu resignativer und fatalistischer Lethargie wechseln.Doch die nüchternen Erwartungen der Ärzte und Ärztinnen an ein Dichterleben, ihre kreativen Phasen und Krisen (5. Kapitel), schlagen gelegent- lich in pure Lebenslust um, vor allem wenn das Dasein erotisch aufgeladen ist. Die im letzten Jahrhundert gegen den Wind gesungenen Protestlieder, wie zum Beispiel The Times They are A-Changin, wurden durch den Literaturnobelpreis 2016 veredelt. Es sind aber nicht nur Lied- texte, sondern auch Sprechgesänge, Poetry Slam-Vorträge und ganz text- freie Techno-Rhythmen, die derzeit Menschenmengen in Rauschzustände versetzen. Abertausende Jugendliche harren dicht beieinander aus, halten sich aufrecht – in endloser Standing Ovation – und recken die Arme bis hinauf zu den Pop- und Punk-Rockern oder Hip-Hop-Rappern: I stand here, a manifestation of love and pain, With veins pumping revolution. Ganz anders verhält sich das in großen Konzerthallen sitzende ältere Pub- likum. Es klatscht und nickt im Viervierteltakt volkstümlicher Musik, ein wirklich harmloses Vergnügen. Doch die Dichter pflegten gewiss nicht nur den Gesang von Nachti- gallen und Schwänen einzufangen oder Rosenduft, Sternenglanz und Rauscherlebnisse in ästhetische Formen zu gießen, sondern schreckten auch nicht davor zurück, Zorn, Wut und Empörung mit viel Ironie und Sarkasmus, wenn auch metaphorisch verhüllt und kunstvoll verziert, in Worte zu fassen. Umso mehr mag die fatale Wirkung eines Verses aus der Zeit der deutschen Romantik überraschen: Justinus Kerner, der schwäbische Arztdichter, der ebenso unerschro- cken wie erfolgreich mit dem stärksten aller natürlichen Gifte (Botulinum-Toxin) experimentiert hatte, geriet eines Tages in panische Angst und wollte sogar das Land verlassen, als er erfuhr, welche Gefahr von einer einzigen seiner klingenden Metaphern ausgegangen war (8. Kapitel). Er hatte mit einem trefflichen Vers, wenn auch „etwas kühn“, wie er bekannte, seine Zeitgenossen bei Hofe als „goldbordierte Knechte“ karikiert. Fortan musste er wie viele Dichter befürchten – und das war wohl noch nie ein reiner Wahn, – von staatlichen Stellen überwacht zu werden. Besonders bemerkenswert ist, dass seine rege Forschungsarbeit auch zur Ablenkung der Geheimpolizei diente, weil medizinische Schriften den Argwohn der Zensoren weniger erregten als die „gefährliche Poesie“.
Tag: 26. August 2022
Drei Mediziner, die als Dramatiker hervortraten
Drei Mediziner, die als Dramatiker hervortraten, Friedrich Schiller (1759– 1805), Georg Büchner (1813–1837) und Arthur Schnitzler (1862-1931) können die Richtung des Diskurses anzeigen: Auf der Suche nach Spuren der Psychosomatik in der Literatur finden sich wegweisende Texte dieser Dichter. Sie hatten im Umgang mit kranken Menschen psychologische Einblicke in das dynamische Dreiecksverhältnis von Körper, Geist und Umwelt gewonnen. Schiller und Büchner verfassten ihre ersten Dramen jeweils in der letzten Dekade vor den großen Revolutionen von 1789 bzw. 1848. Schnitzler debütierte etwa 100 Jahre nach Schiller und 50 Jahre nach Büchner mit Dramen- und Prosatexten, als er – synchron mit dem Auf- takt der Psychoanalyse – traumartige Gedankenflüge in die Literatur un- ternahm und den inneren Monolog für die deutsche Sprache entwickelte.
Rezension Deutsches Ärzteblatt
Ärzte, Dichter und Rebellen