Die Erforschung der Verbrechen des Nationalsozialismus hat der Historiker Götz Aly mit bedeutenden Büchern vorangetrieben, darunter ‚Vordenker der Vernichtung‘ (1991, mit Susanne Heim), ‚Hitlers Volksstaat‘ (2005) und ‚Warum die Deutschen, warum die Juden?‘ (2011). In seinem jüngsten Buch ‚Europa gegen die Juden. 1880-1945‘ zieht er eine Art von Summe – indem er eine markante These zu den Möglichkeitsbedingungen des Holocaust umfassend belegt und begründet, mit ganz Europa im Blick. Der Antisemitismus war demnach nicht die Sache einer Minderheit von irrationalem Hass getriebener Fanatiker. Für die Verdrängung der Juden aus dem bürgerlichen Leben gab es rationale Gründe – rational im Sinne von: erklärbar, aus den materiellen Interessen derjenigen, die von der Beseitigung der Konkurrenz profitierten. Mit verblüffendem Effekt zitiert Aly aus der prophetischen Geschichtsschreibung des bayerischen Finanzbeamten Siegfried Lichtenstaedter, der 1942 in Theresienstadt ermordet wurde. Es war möglich, den Holocaust vorauszusagen. Dann hätte er auch verhindert werden können. Und dann sollte es wenigstens möglich sein, ihn zu erklären.[…]
In diesem Band ist auch der Aufsatz enthalten: Karl F. Masuhr und Götz Aly: Der diagnostische Blick des Gerhard Kloos:
Götz Aly, geboren 1947, ist Historiker und Journalist. Er arbeitete u.a. für die »taz«, die »Berliner Zeitung« und als Gastprofessor. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt.
Aus den Täterbiographien der Medizinprofessoren Dr. Dr. Werner Catel und Dr. Dr. Gerhard Kloos lässt sich zweierlei ersehen: Zum einen wurden die im geheimen staatlichen Auftrag begangenen Untaten nicht verfolgt, sondern geduldet und gerechtfertigt, zum andern konnten die Täter mit ihren im Geist der NS-Medizin verfassten Schriften noch jahrzehntelang Schaden anrichten, ohne dass die Studierenden der Medizin oder die Kranken davor gewarnt wurden.
Werner Catel (1894–1981) setzte sich für die aktive Sterbehilfe als „Auslöschung“ und „Erlösung“ von Menschen mit Behinderungen ein.
Als Sechzehnjähriger hatte er eigenmächtig beim Sterben seiner Großmutter durch Verdoppelung der ärztlich verordneten Opium-Dosis nachgeholfen. Seither faszinierte ihn die Machtvorstellung, überlegt, indiziert, tatkräftig einzugreifen, um gezielt Menschen zu töten, also Sterbende von einem Leiden und leidende Kinder vom Leben zu „befreien“.
Er schrieb auch zwei Theaterstücke und mehrere Gedichtbände.
1932 wurde er Professor für Kinderheilkunde an der Charité, 1933 Ordinarius in Leipzig. Er war als Gutachter und Berater mitverantwortlich für den auf den 1.9.1939 datierten Gnadentod-Erlass: Vom ersten Tag des Krieges an wurde die „Euthanasie“-Aktion zur Ermordung von Epilepsiekranken, körperlich und geistig behinderten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in die Tat umgesetzt.
Zehn Jahre später wurde eine staatsanwaltschaftliche Untersuchung wegen Totschlags eingestellt. Erst 1960 gab Catel sein Amt als Direktor der Universitätskinderklinik Kiel auf. Doch schon 1962 befürwortete er wieder die fatale „Euthanasie“. Dass er sich nicht für seine Taten verantworten musste, wiegt umso schwerer, als er die eugenischen Auffassungen der NS-Zeit weiterverbreiten konnte.
Dem Werdegang Werner Catels gleicht in weiten Teilen die Karriere des Professors Dr. med. Dr. phil. Gerhard Kloos (1906–1988), der sich trotz seiner Beteiligung an der NS- „Euthanasie“-Aktion ebenfalls einer gerichtlichen Verurteilung entziehen konnte.
Gerhard Kloos hatte eine Dissertation über Synästhesien (1931) und eine weitere über Täuschungsphänomene (1933) verfertigt. Während des Krieges leitete er in Stadtrhoda bei Jena die Kinderfachabteilung [ohne Zusatz: für „Euthanasie“].
Nach dem Krieg war Kloos Direktor der Landesklinik in Göttingen. Er löste den widerständigen Klinikdirektor Ewald ab, der sich während der NS-Zeit g e g e n die NS-„Euthanasie“ gewandt hatte. Generationen von Studierenden der Medizin, die nichts von seinem Doppelleben ahnten, orientierten sich an dem Grundriß der Psychiatrie und Neurologie (1944) und einem Intelligenztest des Gerard Kloos. In diesen Kompendien herrschten rassenhygienische Begriffe und antisemitische Thesen vor. Die „Intelligenztest-Frage 16“ hatte z.B. gelautet: „Warum lehnen wir die Juden ab?“ In den Nachkriegsauflagen bekannte sich Kloos zur Kunst des Weglassens. Seine im Duktus der NS-Psychiatrie geprägten Schriften wurden allerdings noch nach seinem Tod (1988) verbreitet. Vgl. Masuhr, K.F. und Aly, Götz: Der diagnostische Blick des Gerhard Kloos.In: Reform und Gewissen, S. 80-106. Berlin 1. Aufl. Berlin 1985, 2. Aufl. Bielefeld 1989.
Klaus Barbie war vom bolivianischen Geheimdienst auf die Spur der Guerilleros gesetzt worden. So kam es, dass vor 50 Jahren Commandante Ernesto Guevara mithilfe des deutschen Adlers aufgespürt wurde.
Der bekannte Heidelberger Mediziner Prof. Dr. Dr. Gotthart Schettler (ehemals NSDAP-Funktionär) hatte sich gemeinsam mit dem Ministerpräsidenten Hans Filbinger (ehemals NS-Richter) in den 1970ern gegen die Hochschulreform gestellt. Jetzt äußerte sich ein Verfolgter des NS-Regimes:
Mit den Worten „Gotthard Schettler verunziert die Ehre von Falkenstein“, weist Hans Selbiger auf die Nazi-braune Vita des 1917 in Falkenstein geborenen späteren Arztes hin. Ihm die Ehre abzuerkennen, führt Selbiger nicht in erster Linie zurück auf die Mitgliedschaft in der NSDAP, in die der Falkensteiner in jungen Jahren eintrat.“ Schettler hatte in dem Gutachten Selbigers Verfolgungsschäden mit diesen Worten anzweifelt:
„Die jüdische Rasse scheint zu Gicht, Diabetes mellitus und familiärer Hypercholesterinämie…. zu neigen“. Damit hatte Schettler den Stab über Horst Selbiger und wohl zahlreichen anderen, Entschädigung fordernden Holocaust-Opfern gebrochen. (Cornelia Henze)