Gibt es auch Dichterinnen im Bereich der Medizin?

In der Monographie von Wilhelm Theopold mit dem Titel
Doktor und Poet dazu.  Dichterärzte aus fünf Jahrhunderten“
wird beklagt, dass es immer an Ärztinnen in der schönen Literatur gefehlt habe.  Dies sei dem historisch späten Beginn des Frauenstudiums geschuldet: Unter den zahlreichen Poeten finde sich „keine einzige“ Medizinerin.

Dies trifft aber nicht zu.

Ein neues Aufgabengebiet eröffnete sich unabhängigen Ärztinnen und Ärzten auch außerhalb europäischer Grenzen. Darüber berichtet die Schriftstellerin und Ärztin Inga Wißgott, die zwei Gedichtbände über Medizinisches und Menschliches (2003)und einen Bericht über ihren Einsatz als Chirurgin in Afrikas Krisenregionen publizierte: Ärztin ohne Grenzen (2009).

wissgott heute
Inga Wißgott, Wien, Ärztin ohne Grenzen, Lyrikerin und Erzählerin

Auf die Frage, wie sie auf die Idee gekommen sei, mit den Ärzten ohne Grenzen nach Afrika zu gehen, antwortete sie, ihre Mutter, selbst Ärztin, habe ihr schon früh von Albert Schweitzer (1875–1965) erzählt, der sich der Humanität verschrieben und in Afrika ein Spital aufgebaut hatte.

Zur Situation der Frauen in Literatur und Medizin

Während der ritterliche Minnesang des Mittelalters die Frau vielfach auf einen begehrten Gegenstand der höfischen Dichtkunst reduzierte, griff in der Neuzeit eine Reihe von Autorinnen aus eigener Lust an der Poesie zur Feder. Hinzu kam das allgemein wachsende wissenschaftliche Interesse an der Medizin.

Es verwundert allerdings nicht, dass im 19. und selbst noch im 20. Jahrhundert nur wenige Ärztinnen neben ihrem Einsatz für Kranke und der Arbeit für die eigene Familie auch noch literarische Texte verfassten, wie zum Beispiel Harriet Straub (1872–1945), eine der ersten approbierten Medizinerinnen, die sich zudem in der Frauenbewegung engagierten, wie auch Charlotte Wolff (1897–1986) und Nawal El Saadawi (*1931).

 

 

2 Harriet Straub neu
Harriet Straub (Hedwig Mauthner, 1872-1945) „Wüstenärztin“, Erzählerin, S.16 Doctors, poets and rebels

33 El Saadawi
Nawal El Saadawi, Kairo, Psychiaterin, Erzählerin und Rebellin  (S. 249)
26 Charlotte Wolff
Charlotte Wolff, Ärztin, Dichterin und Rebellin

s. a. Charlotte Wolff  S. 74,  Alice Jones S. 23, Margaret Atieno Ogala S. 28,  Herta Nathorff und  Elizaveta Polonskaja S. 89,  Annemarie Leibbrand S. 90 und Vera I. Gedroitz S. 163.

Northhoff Hertha Abb
Hertha Nathorff, Ärztin und Dichterin
wissgott heute
Inga Wißgott, Wien, Ärztin ohne Grenzen, Lyrikerin und Erzählerin

Ilse Aichinger, geb. am 1.11.1921, „eine der wichtigsten und                            
widerständigsten Stimmen der deutschsprachigen Literatur nach 1945″  
war Tochter  einer  jüdischen  Ärztin.  Ihr  Vater  übte  einen  pädagogischen
Beruf aus. Nach der frühen Scheidung der Eltern (1927) lebte sie
bei ihrer Mutter und Großmutter in Wien. 1942 erhielt die Mut-
ter  Berufsverbot,  und  die  Großmutter  wurde  in  ein  Vernich-
tungslager bei Minsk deportiert. Ilse Aichinger rettete das Leben
ihrer Mutter, als sie sie in einem Haus – gegenüber dem Wiener
Gestapo-Hauptquartier  –  versteckte.  Sie  wollte  Ärztin  werden,
brach  aber  das  Medizinstudium  nach  fünf  Semestern  ab,  um  als
Verlagslektorin zu arbeiten und eigene Prosatexte, darunter den
autobiografischen  Roman  Die  größere  Hoffnung  (1948)  zu  ver-
fassen. Sie war mit dem Lyriker und Hörspielautor Günther Eich
(1907–1972) verheiratet, den sie bei einer Tagung der Gruppe 47
kennen gelernt hatte; beiden wurde der Preis der Gruppe 47 ver-
liehen.  Kurz  nach  ihrem  95.  Geburtstag  starb  Ilse  Aichinger  am 11.
November 2016 in Wien. Siehe auch Spiel, Poesie, Sexismus oder Kunst?

Ilse  Aichinger