Das Münchhausen-Syndrom. Diese Verdachtsdiagnose liegt nahe, wenn „professionelle“ Patienten und Patientinnen[1], die über medizinische Detailkennnisse verfügen, unnötige Untersuchungen beanspruchen. Sie wandern von Klinik zu Klinik, provozieren regelmäßig in der Öffentlichkeit, während einer Bahnfahrt, meistens aber auf der Straße in der Nähe einer Ambulanz, eine Notfallsituation. Sie demonstrieren unklare Schwächezustände und Ohnmachten. Bei der Aufnahme klagen sie, je nach Fachrichtung der aufgesuchten Ärzte, über alle nur erdenklichen Symptome, darunter besonders häufig akute Bauchschmerzen und Schwangerschaftsbeschwerden.
In
psychiatrischen Kliniken wird das Münchhausen-Syndrom
eher selten beobachtet, da die Patienten und Patientinnen prinzipiell
organische Leiden angeben. Sie begeben sich meistens in orthopädische,
chirurgische und internistische Kliniken. Typisch sind telefonische
Selbsteinweisungen mit Vorgabe einer Diagnose und einem eigenen Therapievorschlag,
aber auch Selbstentlassungen gegen
ärztlichen Rat.
Charakteristisch sind Selbstverletzungen wie beispielsweise eine künstlich verzögerte
Wundheilung, seltener Abschnürungen von Extremitäten. Da sich die Betreffenden
zahlreichen chirurgischen Eingriffen unterziehen, geben multiple Narben Hinweise auf die lange Vorgeschichte. Eine
artifizielle Hämaturie, Protein- und Glukosurie wird von den Betreffenden durch
Blut-, Eiweiß- bzw. Zuckerbeimischung erzeugt. Es kann auch zur
Fehldiagnose „Koma“kommen: Lichtstarre Pupillen (nach Selbstverordnung von Atropin-Augentropfen) werden gelegentlich prima vista zum diagnostischen Problem.
Klinisches
Beispiel: Eine 45-jährige Stationshilfe, die seit 20 Jahren von Klinik zu
Klinik reiste und sich bei mehr als 100 Krankenhausaufenthalten 30 abdominellen
Operationen, darunter 21 chirurgischen Eingriffen wegen
„Darmverschluß“ unterzog, wechselte nicht nur ständig den Aufenthalt,
sondern auch ihre Identität. Sie benutzte drei Pseudonyme. Die von
ihr angegebenen Daten vorausgegeangener Behandlungen waren korrekt. Diagnostisch
handelte es sich allerdings um eine Pseudogravidität und deren Folgen. Keine der
vorgebrachten Beschwerden war glaubhaft. Schon im 14. Lebensjahr hatte sie
angegeben, schwanger zu sein. Bei einer späteren klinischen Untersuchung zeigte
sie die Fotografie eines dreijährigen Mädchens, angeblich ihrer Tochter Sonja vor. Das Kind war fantasiert, der
fragliche Geburtstermin erfunden; denn zu diesem Zeitpunkt reiste sie, wie aus
zwei Krankengeschichten hervorging, von einer Klinik in Rotterdam („keine
Gravidität“), zur stationären Behandlung nach Basel, wo ebenfalls, wie bei
allen weiteren Krankenhausaufenthalten, keine
Schwangerschaft festgestellt werden konnte, geschweige eine Geburt stattfand. Doch
unter dem Verdacht auf „Extrauteringravidität“ wurde sie neunmal notfallmäßig
operiert. Sie wies zahlreiche abdominelle Narben auf. Weitere Eingriffe folgten
wegen „Verwachsungen. Ein Psychiater
bemerkte schließlich ihre „Neigung zum Fabulieren“, die so
genannte Pseudologia phantastica. Auf
die angebotene Psychotherapie machte sie sich ihren eigenen Vers:
„Ärzten, Patienten und
Psychologen, allen wird etwas vorgelogen.“
Sie trat eine Stelle als Kellnerin
an und heiratete einen drogenabhängigen Mann. Als dieser ihr Einkommen für
seinen Drogenkonsum beanspruchte, ließ sie sich scheiden. Seither wanderte sie wieder
von Klinik zu Klinik.
[1] Masuhr et al. DUR Neurologie, Thieme Stuttgart 2016
Das Stellvertreter-Syndrom („Munchhausen by proxy“)
Im Fall des erweiterten Münchhausen-Syndroms („Munchhausen by proxy„) werden –„stellvertretend“für Selbstbeschädigungen – vergleichbare Symptome bei anderen Menschen, meistens den eigenen Kindern, künstlich erzeugt. Es sind Eltern, vorwiegend Mütter, die „Asthma-Anfälle“ (Atemnot durch Pressen der Hand auf Nase und Mund) bei ihren kleinen Kindern hervorrufen, oder auch eine Anämie (durch Aderlässe), „septisches Fieber“ (durch Erhitzung des Thermometers) oder eine „Hypoglycaemia factitia“ (Unterzuckerung nach Insulin-Injektion) herbeiführen. Es können mehrere Geschwister betroffen sein. Die Eltern stimmen bereitwillig allen unnötigen Untersuchungen und invasiven Eingriffen zu und lassen sich für ihre „Opferbereitschaft“ und „Umsicht“ loben. Wenn die fortgesetzte Kindesmisshandlung einmal auffällt, leugnen sie hartnäckig ihre Täterschaft.
Die Eltern werden erst spät entlarvt, weil es schwer für jeden Beobachter schwer vorstellbar ist, dass sie Kinder in dieser Weise missbrauchen.
Himmel hilf und lass Hirn wachsen!
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